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[An Milena Jesenská]
Also die Lunge. Den ganzen Tag habe ich es im Kopf herumgedreht, ich konnte
an nichts anderes denken. Nicht dass ich über die Krankheit besonders
erschrocken wäre, wahrscheinlich und hoffentlich - Ihre Andeutungen
scheinen dafür zu sprechen - tritt sie bei Ihnen zart auf und selbst
wirkliche Lungenkrankheit (mehr oder minder fehlerhafte Lungen hat halb
Westeuropa), die ich an mir seit 3 Jahren kenne, hat mir mehr Gutes als
Schlimmes gebracht. Vor etwa 3 Jahren begann es bei mir mitten in der Nacht
mit einem Blutsturz. Ich stand auf, angeregt wie man durch
alles neue ist (statt liegen zu bleiben, wie ich es später als Vorschrift
erfuhr), natürlich auch etwas erschreckt, gieng zum Fenster, lehnte
mich hinaus, gieng zum Waschtisch, gieng im Zimmer herum, setzte mich auf's
Bett - immerfort Blut. Dabei aber war ich gar nicht unglücklich, denn
ich wußte allmählich aus einem bestimmten Grunde, dass
ich nach 3, 4 fast schlaflosen Jahren, vorausgesetzt dass die Blutung
aufhört, zum erstenmal schlafen werde. Es hörte auch auf (kam
auch seitdem nicht wieder) und ich schlief den Rest der Nacht. Am Morgen
kam zwar die Bedienerin (ich hatte damals eine Wohnung im Schönborn-Palais),
ein gutes, fast aufopferndes, aber äußerst sachliches Mädchen,
sah das Blut und sagte: "Pane doktore, s Vámi to dlouho
nepotrvá." Aber mir war besser als sonst, ich gieng ins Bureau
und erst nachmittag zum Arzt. Die weitere Geschichte ist hier gleichgiltig.
Ich wollte nur sagen: Nicht Ihre Krankheit hat mich erschreckt, (zumal
ich immerfort mir dazwischenfahre, an der Erinnerung herumarbeite, das
fast Bäuerisch-Frische durch alle Zartheit erkenne und feststelle:
nein, Sie sind nicht krank, eine Mahnung aber keine Krankheit der Lunge),
nicht das also hat mich erschreckt, aber der Gedanke an das, was dieser
Störung hat vorhergehn müssen. Dabei schalte ich zunächst
aus, was sonst in Ihrem Briefe steht wie: keinen Heller - Tee und Apfel
- täglich von 2-8 - das sind Dinge, die ich nicht verstehen kann,
offenbar kann man das wirklich nur mündlich erklären. Davon sehe
ich also hier ab (nur im Brief allerdings, denn vergessen kann man das
nicht) und denke nur an die Erklärung, die ich mir damals
für die Erkrankung in meinem Fall zurechtlegte und die für
viele Fälle paßt. Es war so, dass das Gehirn die ihm auferlegten
Sorgen und Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Es sagte: "ich gebe es
auf; ist hier aber noch jemand, dem an der Erhaltung des Ganzen etwas liegt,
dann möge er mir etwas von meiner Last abnehmen und es wird noch ein
Weilchen gehn." Da meldete sich die Lunge, viel zu verlieren hatte sie
ja wohl nicht. Diese Verhandlungen zwischen Gehirn und Lunge, die ohne
mein Wissen vor sich giengen, mögen schrecklich gewesen sein.
Und was werden Sie nun tun? Es ist ja wahrscheinlich ein Nichts, wenn man
Sie ein wenig behütet. Daß man Sie aber ein wenig behüten
muß, muß doch jeder einsehn, der Sie lieb hat, da muß
doch alles andere schweigen. Also auch eine Erlösung hier? Ich sagte
ja, - nein, ich will keine Späße machen, ich bin auch gar nicht
lustig und werde es nicht früher, ehe Sie mir nicht geschrieben haben,
wie Sie Ihre Lebensweise neu und gesunder einrichten. Warum Sie nicht ein
wenig von Wien fortgehn, frage ich nach Ihrem letzten Brief nicht mehr,
das verstehe ich jetzt, aber auch ganz nahe bei Wien gibt es doch schöne
Aufenthalte und manche Möglichkeit für Sie zu sorgen. Ich schreibe
heute von nichts anderem, es gibt nichts Wichtigeres, das ich vorzubringen
habe. Alles andere morgen, auch den Dank für das Heft,
das mich rührt und beschämt, traurig macht und freut. Nein, eines
noch heute: Wenn Sie auch nur eine Minute Ihres Schlafes für Übersetzungsarbeit
verwenden, so ist es so, wie wenn Sie mich verfluchen würden. Denn
wenn es einmal zu einem Gericht kommt, wird man sich nicht in weitere Untersuchungen
einlassen, sondern einfach feststellen: er hat sie um den Schlaf gebracht.
Damit bin ich gerichtet und mit Recht. Ich kämpfe also für mich,
wenn ich Sie bitte, das nicht mehr zu tun
1] Blutsturz: Vgl. auch Kafkas Beschreibung des
Ausbruchs seiner Krankheit im August 1917 in "Briefe an Ottla",
S. 39-41 und in "Briefe an Felice", S. 753 f.
2] "Pane doktore, s Vámi to dlouho nepotrvá."
: "Herr Doktor, mit Ihnen dauert's nicht mehr lange."
3] Erklärung, die ich mir. . . zurechtlegte:
Kafka deutete seine Lungenerkrankung als psychosomatische Erscheinung,
als Folge eines durch die wiederholten Heiratsversuche (Felice Bauer) ausgelösten
und in seiner Härte nicht mehr zu ertragenden inneren Kampfes. Vgl.
"Tagebücher" (15. September 1917), S.529; "Briefe"
[Zürau, Mitte September 1911], S. 160 f.; "Briefe an Felice"
[30. September oder 1. Oktober 1917], S. 755-757 Vgl. auch in diesem Band
den späteren Brief an Milena [31. Mai 19201, S. 29.
4] das Heft: Das Exemplar der literarischen Wochenschrift
"Kmen", IV. Jg., Nr. (22. 4. 1920), S. 61-72, mit Milenas Übersetzung
von Kafkas Erzählung "Der Heizer" ["Topič"].
Kafka bittet seine Schwester Ottla, 20 Exemplare dieser Nummer für
ihn zu kaufen. Vgl. "Briefe an Ottla", S. 87.
5] Ihr Franz K. [Faksimile der Unterschrift]: In
dieser Form, Vorname und Initiale des Nachnamens sind miteinander verbunden,
erscheint die Unterschrift noch einige Male in den folgenden Briefen. Milena
las sie als "Frank".
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at