Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, kleine Fürsorgestelle,
Nachtrag zum Tetsch:
1.) die Bestätigung wegen der Kleider die Herr Hippmann dem Sopper
aufgestellt hat ist sehr gut, so soll er es auch für den Tetsch machen
und mir schicken.
2.) der Tetsch hat wegen seiner Bedürftigkeit auf Grund eines neuen
Gesetzes Anspruch auf eine besonder Unterstützung von etwa 48 K monatlich.
Nur muß ein Zuwendungsansuchen gemacht werden und zwar auf dem beiliegenden
Formular. Der Herr Vorsteher soll es für Tetsch ausfüllen und
auf der 3tten Seite an die Bezirkshaupmannschaft Podersam
adressieren
*
Die Kleidersache Sopper wird so erledigt, dass Sopper von hier aus
gleich 300 K bekommt und dass außerdem an die Fürsorgestelle
Podersam (Lehrer Rößler) geschrieben wird, sie möge wie
es ihre Pflicht ist, aus ihren Mitteln die 100 K, die zum Kleiderkauf noch
nötig sind (der Herr Vorsteher hat den Preis mit 400 K angegeben)
dem Sopper auszahlen. Sopper kann ja dann auch noch persönlich den
Lehrer Rößler darum bitten.
*
Viele Grüße Franz
Meine erste Begegnung mit Tetsch in Prag war so: ich gehe Sonntag abend
mit Max und seiner Frau den Belvedereabhang hinauf und
sehe von der Ferne auf einer dieser künstlichen Steinböschungen
einen Soldaten sitzen, ohne Strümpfe, die Hosen hoch hinaufgezogen,
den einen Ärmel leer, hinter dem Ohr eine große Beule. "Auch
ein Soldat" sag ich und schau lieber gar nicht hin. Erst als ich
vorüber bin, dreh ich mich um: es ist der Tetsch. Ich habe wirklich
Freude gehabt.
Datierung aufgrund der Nachschrift von Nr. 42. Vorhergegangen sein muß
dem Schreiben ein Besuch Kafkas bei Ottla in Zürau. (Vgl. auch Nr.
39 und die Anmerkungen zu Nr. 45)
Ein glücklicher Umstand ermöglicht es, den Hintergrund der Tetsch-Angelegenheit
etwas zu erhellen. Wie ein Vergleich eines von Max Brod in H 445 f. unvollständig
publizierten Zettels mit dem in Kafkas Nachlaß (Oxford, Bodleiana)
erhaltenen Original zeigt, muß es sich dabei um Notizen handeln,
die er sich aufgrund von Erzählungen Ottlas für eine Eingabe
zugunsten dieses Soldaten gemacht hat, denn neben einer in Wien lebenden
Schwester, einem Onkel Franz Fischer in Oberklee wird unter den Nächstverwandten
des Verwaisten auch ein im gleichen Verwandtschaftsgrad stehender Fleischhauer
Josef Te[t]sch in Saaz erwähnt. Dann heißt es über den
fürs Militär nicht diensttauglichen Mann: "Nicht normal,
gerade zum Tongraben hat es gelangt, deshalb wurde er auch nicht assentiert,
auch als Alter hätte er nicht einrücken müssen. Er hat sich,
ohne recht zu wissen, worum es sich gehandelt hat, aufgedrängt. Rechnen
und schreiben kann er nicht, an selbständigen Viehhandel, Gemüsehandel
ist nicht zu denken, deshalb kann auch die Gemeinde keine solche Verantwortung
auf sich nehmen. Wohl denkbar wäre aber, dass er den Verwandten
beim Vieheinkauf hilft, indem er das gekaufte Vieh abholt, zutreibt und
so weiter. In dieser Weise wäre auch Gemüsehandel für ihn
denkbar, dass er den Karren führt, das Gemüse abholt und
so weiter. Jede Selbständigkeit ist aber ausgeschlossen, so dürften
es sich auch die Verwandten gedacht haben, dann müssen aber sie selbst
die Verantwortung übernehmen."
Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf ein in zwei an David gerichteten Briefen
Ottlas (vom 29. VII. 1917 und 18. VII. 1918) erwähnter Soldat mit
Tetsch identifiziert werden. Demnach hätte Ottla, deren Interesse
und Eintreten für die sozialen Unterschichten stark entwickelt war
(vgl. z. B. Nr. 95, die Anmerkungen zu Nr. 37, F 598 f. und H 188), diesen
Mann ganz im Sinne der Vorstellungen ihres Bruders für leichte landwirtschaftliche
Arbeiten herangezogen.
Podersam: Kreisstadt für Zürau.
Belvedereabhang: die sich östlich des Hradschin
erstreckenden Kronprinz-Rudolfs-Anlagen (heute Letenské Sady).
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at