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[An Ottla Kafka]

[Prag, ca. 20 Juni 1917]
 


Liebe Ottla, kleine Fürsorgestelle,

Nachtrag zum Tetsch:

1.) die Bestätigung wegen der Kleider die Herr Hippmann dem Sopper aufgestellt hat ist sehr gut, so soll er es auch für den Tetsch machen und mir schicken.

2.) der Tetsch hat wegen seiner Bedürftigkeit auf Grund eines neuen Gesetzes Anspruch auf eine besonder Unterstützung von etwa 48 K monatlich. Nur muß ein Zuwendungsansuchen gemacht werden und zwar auf dem beiliegenden Formular. Der Herr Vorsteher soll es für Tetsch ausfüllen und auf der 3tten Seite an die Bezirkshaupmannschaft Podersam adressieren


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Die Kleidersache Sopper wird so erledigt, dass Sopper von hier aus gleich 300 K bekommt und dass außerdem an die Fürsorgestelle Podersam (Lehrer Rößler) geschrieben wird, sie möge wie es ihre Pflicht ist, aus ihren Mitteln die 100 K, die zum Kleiderkauf noch nötig sind (der Herr Vorsteher hat den Preis mit 400 K angegeben) dem Sopper auszahlen. Sopper kann ja dann auch noch persönlich den Lehrer Rößler darum bitten.


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Viele Grüße         Franz


Meine erste Begegnung mit Tetsch in Prag war so: ich gehe Sonntag abend mit Max und seiner Frau den Belvedereabhang hinauf und sehe von der Ferne auf einer dieser künstlichen Steinböschungen einen Soldaten sitzen, ohne Strümpfe, die Hosen hoch hinaufgezogen, den einen Ärmel leer, hinter dem Ohr eine große Beule. "Auch ein Soldat" sag ich und schau lieber gar nicht hin. Erst als ich vorüber bin, dreh ich mich um: es ist der Tetsch. Ich habe wirklich Freude gehabt.




Datierung aufgrund der Nachschrift von Nr. 42. Vorhergegangen sein muß dem Schreiben ein Besuch Kafkas bei Ottla in Zürau. (Vgl. auch Nr. 39 und die Anmerkungen zu Nr. 45)

Ein glücklicher Umstand ermöglicht es, den Hintergrund der Tetsch-Angelegenheit etwas zu erhellen. Wie ein Vergleich eines von Max Brod in H 445 f. unvollständig publizierten Zettels mit dem in Kafkas Nachlaß (Oxford, Bodleiana) erhaltenen Original zeigt, muß es sich dabei um Notizen handeln, die er sich aufgrund von Erzählungen Ottlas für eine Eingabe zugunsten dieses Soldaten gemacht hat, denn neben einer in Wien lebenden Schwester, einem Onkel Franz Fischer in Oberklee wird unter den Nächstverwandten des Verwaisten auch ein im gleichen Verwandtschaftsgrad stehender Fleischhauer Josef Te[t]sch in Saaz erwähnt. Dann heißt es über den fürs Militär nicht diensttauglichen Mann: "Nicht normal, gerade zum Tongraben hat es gelangt, deshalb wurde er auch nicht assentiert, auch als Alter hätte er nicht einrücken müssen. Er hat sich, ohne recht zu wissen, worum es sich gehandelt hat, aufgedrängt. Rechnen und schreiben kann er nicht, an selbständigen Viehhandel, Gemüsehandel ist nicht zu denken, deshalb kann auch die Gemeinde keine solche Verantwortung auf sich nehmen. Wohl denkbar wäre aber, dass er den Verwandten beim Vieheinkauf hilft, indem er das gekaufte Vieh abholt, zutreibt und so weiter. In dieser Weise wäre auch Gemüsehandel für ihn denkbar, dass er den Karren führt, das Gemüse abholt und so weiter. Jede Selbständigkeit ist aber ausgeschlossen, so dürften es sich auch die Verwandten gedacht haben, dann müssen aber sie selbst die Verantwortung übernehmen."

Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf ein in zwei an David gerichteten Briefen Ottlas (vom 29. VII. 1917 und 18. VII. 1918) erwähnter Soldat mit Tetsch identifiziert werden. Demnach hätte Ottla, deren Interesse und Eintreten für die sozialen Unterschichten stark entwickelt war (vgl. z. B. Nr. 95, die Anmerkungen zu Nr. 37, F 598 f. und H 188), diesen Mann ganz im Sinne der Vorstellungen ihres Bruders für leichte landwirtschaftliche Arbeiten herangezogen.


Podersam: Kreisstadt für Zürau.


Belvedereabhang: die sich östlich des Hradschin erstreckenden Kronprinz-Rudolfs-Anlagen (heute Letenské Sady).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at