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[Tagebuch, 3. November 1915; Mittwoch]

3 Nov. (1915) Viel gesehn in der letzten Zeit, weniger Kopfschmerzen. Spaziergänge mit Frl. Reiß. Mit ihr bei "Er und seine Schwester", von Girardi gespielt. (Haben Sie denn Talent? - Gestatten Sie dass ich dazwischen trete und für sie antworte: C> ja, o ja) In der städtischen Lesehalle. Bei ihren Eltern die Fahne angesehn. Die 2 wunderbaren Schwestern Esther und Tilka wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens. Besonders Tilka schön: olivenbraun, gewölbte gesenkte Augenlider, tiefes Asien. Beide Shawls um die Schultern gezogen. Sie sind mittelgroß, eher klein und erscheinen aufrecht und hoch wie Göttinnen, die eine auf dem Rundpolster des Kanapees, Tilka in einem Winkel auf irgendeiner unkenntlichen Sitzgelegenheit, vielleicht auf Schachteln. Im Halbschlaf lange Esther gesehn, die sich mit der Leidenschaft, die sie meinem Eindruck nach für alles Geistige zu haben scheint, in den Knoten eines Seiles festgebissen hatte und mächtig hin und her im leeren Raum geschwungen wurde wie ein Glockenschlägel (Erinnerung an ein Kinoplakat) - Die beiden Lieblich. Die kleine teuflische Lehrerin, die ich auch im Halbschlaf sah, wie sie jagend im Tanz, in einem kosakenmäßigen aber schwebenden Tanz über einem leicht geneigtem dunkelbraun im Dämmerlicht daliegendem holprigen Backsteinpflaster hinauf und hinab flog.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at