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An Grete Bloch

[1. Februar 1914, Sonntag]
 

Liebes Fräulein!

Ich wollte Ihnen unbedingt gleich antworten, nicht etwa um Ihnen etwa Wichtiges oder gar für Ihre menschliche Lage Wichtiges zu sagen, sondern nur um Ihnen zu schreiben, um irgendetwas wenn auch Sinnloses und Unnützes für Sie zu tun, wie mir überhaupt scheint, dass mein grundfalsches Verhältnis zu Ihnen zum Teil dadurch bestimmt worden ist, dass ich (nach außen hin scheinen das große Worte, nach innen hin ist kein Wort groß genug) immer über mich hinaus durch eine nicht zu durchreißende Hemmung, gleichzeitig gedrängt und gehalten, irgendwie Ihnen näherzukommen versuchte und dass ich das Mißlingen dessen trotz aller schönen Selbsterkenntnis Ihnen anrechnete. Und doch liegt es nur daran, dass Sie mit mir über F. hin bekannt wurden, dass ich mich in Prag als ich Sie zum ersten Mal traf gezwungen sah, mit einem mir doch vollständig fremden Menschen über F. zu reden, dass ich sogar mit dem Mitleid dieses fremden Menschen absichtlich (die Absicht ergibt sich, man geht nicht von ihr aus) rechnete, dass meine Geschwätzigkeit in solchen Dingen (meine Geschwätzigkeit kommt allerdings mit paar Worten aus, aus Not) sich nicht halten läßt und mir vor ihr zum Sterben übel wird - alles dieses und noch mehr derartiges war die Ursache dessen, dass ich später, so sehr ich es im Grunde immer wollte, nicht ohne diese verdammten abwehrenden Bemerkungen schreiben konnte.

Ich glaube nicht, dass Mitleid glücklicher macht, besser macht es gewiß nicht, dagegen ist Mitleiden, wenn man dessen im allgemeinen und gegenüber einem bestimmten Menschen fähig ist, soweit ich es erfahren habe, immer ein Glück und es macht auch zu einem bessern Menschen. Es gibt eben keine Wage, bei der beide Schalen gleichzeitig hinaufgehn. Je mehr Menschen von einem Leid wissen, desto schlimmer das Leid und wenn nicht schlimmer wo unreiner. Aber es wird auch gewiß schlimmer, es wird körperlicher, man sieht es mit den Augen der andern von andern Seiten an, und wenn man vielleicht bisher für sich allein das Ganze verbissen mit kleinen Augen angesehn und ausgehalten hat, jetzt vor dieser allbekannten Körperlichkeit muß man sie aufreißen und muß sich fügen, bis ins Allerletzte. Wird es aber nicht schlimmer, sondern nur unreiner, dann ist es vielleicht noch ärger, denn jetzt verliert man vor Widerwillen jede Hoffnung es zu überwinden.

Etwas derartiges fühlte ich damals im "Schwarzen Roß", fühle ich jedesmal, wenn [ich] mit jemandem und sei es mein bester Freund so rede (geschieht es z.B. mit meiner Mutter, so schüttelt mich der Widerwille geradezu). Dazu kommt aber noch, dass ich gleichzeitig bei solchen Reden fast bis an die Oberfläche hinauf Vergnügen, Befriedung habe, dass es meiner Eitelkeit wohltut - muß es dann nicht eine Erlösung für mich sein, wenn ich (und sei es noch so lügenhaft) alles abschüttle und sage: der andere war schuld.

Es ist aber nicht alles, ich darf mich in solche Überlegungen nicht einlassen, ich komme niemals durch, nur im Gefühl halte ich es
[Wahrscheinlich die Fortsetzung dieses Briefes]
halbwegs sicher. Aber vielleicht genügt es, um das Vergangene ein wenig zu erklären und nicht mehr darüber reden zu müssen.

Es ist ja auch jetzt ganz anders; Sie sind mir, besonders nach dem letzten Brief keine Fremde mehr; das Leiden, das mit Geständnissen (wenn sie nicht ganz erzwungen und einseitig sind) verbunden ist, ist ja schließlich das Leiden des menschlichen Verkehres überhaupt; solange man lebt, darf man keine leblose Grenze setzen - und darum und aus einigen ähnlichen Gründen, soll (wenn Sie damit einverstanden sind und Sie sind es, möchte ich hoffen) alles zwischen uns gut sein und wir sollen offen mit einander reden können. Und Sie sollen, wenn Sie von sich schreiben, nicht mehr hinzufügen "die Tatsache, dass Sie sich dafür nicht interessieren können".

An Erna Bauer werde ich nicht schreiben. Ich hielt sie wirklich für Felicens Vertraute; aber selbst wenn sie es wäre, schriebe ich ihr nicht. Darf ich F. auf Umwegen zu mir zwingen? Ist es nicht genug, dass ich es hinnehme, dass Sie für mich an F. schreiben und dass ich Ihnen dafür dankbar bin? Nur hätten Sie nicht verschweigen müssen, dass ich Ihnen geschrieben habe; Sie hätten alles schreiben dürfen und das nicht nur deshalb weil es so unsicher ist, ob überhaupt eine Hilfe noch möglich ist. F. hat eben das Vertrauen zu mir verloren, berechtigte Gründe dafür gibt es ja eine Menge und die eine schon erwähnte Seite des 40 Seiten langen Briefes ist nicht der unwichtigste Grund. Und mit dem Vertrauen ist auch das was F. vielleicht für mich gefühlt hat, verschwunden. Was soll F. tun? Allerdings, dass sie Ihnen nicht schreibt, dafür kenne ich gar keine Erklärung.

Warum F.'s letzter Brief traurig war? Ich schreibe einen Satz hier ab "Wir würden beide durch eine Heirat viel aufzugeben haben, wir wollen es nicht gegenseitig abwägen, wo ein Mehrgewicht entstehen würde. Es ist für uns beide recht viel." Der Satz ist allerdings so entsetzlich (und hätte er noch so viel tatsächliche Wahrheit), dass er von F. unmöglich so gefühlt sein kann. Das widerspricht F's Wesen vollständig, muß ihm widersprechen, aber schon dass sie den Satz, aus welchen Gründen immer, niederzuschreiben imstande war, ist traurig und nimmt mir fast jede gute Aussicht. Übrigens, es war kein unüberlegt geschriebener Brief, es sollen ihm (ebenso wie es in dem an Sie geschriebenen Brief heißt) einige nicht abgeschickte Briefe vorhergegangen sein. Soweit F. und ich eine gemeinsame Zukunft haben, scheint sie wirklich nur von dem Brief getragen zu sein, den Sie jetzt geschrieben haben.

Sagen Sie mir doch, wenn Sie es wollen, wer ist der Mann in München? Sieht er und hört er nicht? Worin besteht die Wichtigkeit, die Sie für ihn haben und er für Sie? Sagten oder schrieben Sie nicht einmal, dass Sie daran denken, nächstes Jahr in das süddeutsche Geschäft Ihrer Firma einzutreten? Und was bedeutet die Stelle in Ihrem Brief, die von der "Grundbedingung einer Heirat" handelt und die ich nicht ganz verstehe. Dabei fällt mir übrigens etwas damit nicht Zusammenhängendes ein. Sie schrieben einmal, dass Ihr Zimmer dunkel ist und dass Sie sich kein besseres leisten können. Wieso kommt das, da Sie doch ein genügendes Gehalt haben? Was für ein Vielschreiber und Vielfrager ich geworden bin! Ich höre schon auf. Leben Sie wohl!

Ihr F. Kafka


Das Buch hätte gleichzeitig mit meinem Brief ankommen sollen. Ich werde morgen beim Buchhändler nachfragen.




Quelle Text: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Fischer Taschenbuch Verlag, 1982. 23. - 30. Tausend.
Quelle Anmerkungen: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Fischer Taschenbuch Verlag, 1982. 23. - 30. Tausend.

Schwarzen Roß: Das Hotel, in dem Grete Bloch während ihres Aufenthaltes in Prag (Anfang November 1913) wohnte.


Letzte Änderung: 31.2.2016werner.haas@univie.ac.at