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[Tagebuch, 24. November 1913; Montag]

24. November 13 Vorgestern abend bei Max. Er wird immer fremder, mir war er es schon oft, nun werde ich es auch ihm. Gestern abend einfach ins Bett gelegt. Traum gegen Morgen: Ich sitze im Garten eines Sanatoriums beim langen Tisch, sogar am Kopfende, so dass ich im Traum eigentlich meinen Rücken sehe. Es ist ein trüber Tag, ich muß wohl einen Ausflug gemacht haben und bin in einem Automobil, das im Schwung bei der Rampe vorfuhr, vor kurzem angekommen. Man soll gerade das Essen auftragen, da sehe ich eine der Bedienerinnen, ein junges zartes Mädchen, in sehr leichtem oder aber schwankendem Gang, mit einem Kleid in Herbstblätterfarben, durch die Säulenhalle, die als Vorbau des Sanatoriums diente herankommen und in den Garten herabsteigen. Ich weiß noch nicht, was sie will, aber zeige doch fragend auf mich, um zu erfahren, ob sie mich meine. Sie bringt mir wirklich einen Brief. Ich denke das kann nicht der Brief sein, den ich erwarte, es ist ein ganz dünner Brief und eine fremde dünne unsichere Schrift. Aber ich öffne ihn und es kommt eine große Anzahl dünner vollbeschriebener Papiere heraus, allerdings ist auf allen die fremde Schrift. Ich fange zu lesen an, blättere in den Papieren und erkenne dass es doch ein sehr wichtiger Brief sein muß und offenbar von F.'s jüngster Schwester ist. Ich fange mit Begierde zu lesen an, da sieht mir mein rechter Nachbar, ich weiß nicht ob Mann oder Frau, wahrscheinlich ein Kind, über meinen Arm in den Brief. Ich schreie: "Nein!" Die Tafelrunde nervöser Leute fängt zu zittern an. Ich habe wahrscheinlich ein Unglück angerichtet. Ich versuche mit einigen raschen Worten mich zu entschuldigen, um wieder gleich lesen zu können. Ich beuge mich auch wieder zu meinem Brief, da erwache ich unweigerlich, wie von meinem eigenen Schrei geweckt. Ich zwinge mich bei klarem Bewußtsein mit Gewalt wieder in den Schlaf zurück, die Situation zeigt sich tatsächlich wieder, ich lese noch rasch zwei drei nebelhafte Zeilen des Briefes, von denen ich nichts behalten habe und verliere im weitern Schlaf den Traum.

Der alte Kaufmann, ein riesiger Mann, stieg mit einknickenden Knien, das Geländer mit der Hand nicht haltend sondern pressend die Stiegen zu seiner Wohnung hinauf. Vor der Zimmertür einer vergitterten Glastür wollte er wie immer den Schlüsselbund aus der Hosentasche ziehn, da bemerkte er in einem dunklen Winkel einen jungen Mann, der nun eine Verbeugung machte. "Wer sind Sie? Was wollen Sie?" fragte der Kaufmann noch stöhnend von der Anstrengung des Steigens. "Sind Sie der Kaufmann Messner?" fragte der junge Mann. Ja sagte der Kaufmann. "Dann habe ich Ihnen eine Mitteilung zu machen. Wer ich bin, ist eigentlich hier gleichgültig denn ich bin selbst an der Sache gar nicht beteiligt, bin nur Überbringer der Nachricht. Trotzdem stelle ich mich vor, ich heiße Kette und bin Student. " "So sagte Messner und dachte ein Weilchen nach. Nun und die Nachricht?" sagte er dann. "Das besprechen wir besser im Zimmer" sagte der Student "es ist eine Sache, die sich nicht auf der Treppe abtun läßt. " "Ich wüßte von keiner derartigen Nachricht, die ich zu bekommen hätte" sagte Messner und sah seitwärts auf den Boden. "Das mag sein" sagte der Student. "Übrigens" sagte Messner "jetzt ist 11 Uhr nachts vorüber, kein Mensch wird uns hier zuhören. " "Nein antwortete der Student ich kann es hier unmöglich sagen. " "Und ich" sagte Messner "empfange in der Nacht keine Gäste" und er steckte den Schlüssel so stark ins Schloß, dass die übrigen Schlüssel im Bund noch eine Zeitlang klirrten. "Ich warte hier doch schon seit 8 Uhr, drei Stunden" sagte der Student. "Das beweist nur, dass die Nachricht für Sie wichtig ist. Ich aber will keine Nachrichten haben. Jede Nachricht, die mir erspart wird, ist ein Gewinn. Ich bin nicht neugierig, gehn Sie nur, gehn Sie. " Er faßte den Studenten bei seinem dünnen Überrock und schob ihn ein Stück fort. Dann öffnete er ein wenig die Tür des Zimmers, aus dem eine übergroße Hitze in den kalten Flur drang. "Ist es übrigens eine geschäftliche Nachricht" fragte er dann noch, schon in der offenen Türe stehend. "Auch das kann ich hier nicht sagen" sagte der Student. "Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht" sagte Messner, gieng in sein Zimmer, sperrte die Türe mit dem Schlüssel zu, drehte das Licht der elektrischen Bettlampe auf, füllte an einem kleinen Wandschrank der mehrere Likörflaschen enthielt ein Gläschen, trank es schnalzend aus und begann sich auszuziehn. Gerade wollte er an die hohen Kissen gelehnt eine Zeitung zu lesen beginnen, da schien es ihm als klopfe jemand leise an der Tür. Er legte die Zeitung auf die Bettdecke zurück, kreuzte die Arme und horchte. Tatsächlich klopfte es wieder undzwar ganz leise und förmlich ganz unten an derTür."Wirklich,ein zudringlicher Affe" dachte Messner. Als das Klopfen aufhörte, nahm er wieder die Zeitung vor. Aber nun klopfte es stärker und polterte geradezu gegen die Tür. Wie Kinder zum Spiel die Schläge über die ganze Tür verteilen, so klopfte es, bald unten dumpf ans Holz bald oben hell ans Glas. Ich werde aufstehn müssen dachte kopfschüttelnd Messner. Den Hausmeister kann ich nicht antelephonieren, denn der Apparat ist drüben im Vorzimmer und ich müßte die Wirtin wecken, um hinzukommen. Es bleibt nichts übrig, als dass ich den Jungen eigenhändig die Treppe hinunterwerfe. Er zog eine Filzmütze über den Kopf, streifte die Decke zurück, schob sich mit aufgestemmten Händen zum Bettrand setzte langsam die Füße auf den Boden und zog wattierte hohe Hausschuhe an. "Nun also" dachte er und faßte, an der Oberlippe kauend, die Tür ins Auge "jetzt ist es wieder still. " Aber ich muß mir endgültig Ruhe verschaffen sagte er sich dann, zog aus einem Gestell einen Stock mit Hornknopf, ergriff ihn in der Mitte und gieng zur Tür. "Ist noch jemand draußen?" fragte er an der geschlossenen Tür. "Ja" antwortete es "bitte öffnen Sie nur. " "Ich öffne" sagte Messner, öffnete und trat mit dem Stock vor die Tür. "Schlagt mich nicht! " sagte

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at