Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

22. VIII. 13
 


Unausgesprochen ist vielleicht nichts, Felice, hab darin keine Angst, aber von Dir ganz begriffen ist vielleicht gerade das Wichtigste nicht. Das ist kein Vorwurf, nicht die Spur eines Vorwurfes. Du hast das Menschenmögliche getan, aber was Du nicht hast, kannst Du nicht fassen. Niemand kann das. Und ich allein habe doch alle Sorge und Angst in mir, lebendig wie Schlangen, ich allein sehe ununterbrochen in sie hinein, nur ich weiß, wie es um sie steht. Du erfährst nur durch mich, nur durch Briefe von ihnen, und das was Dir dadurch von ihnen überliefert wird, verhält sich an Schrecken, an Beharrlichkeit, an Größe, an Unbesiegbarkeit zu dem Wirklichen nicht einmal so, wie sich mein Geschriebenes zu dem Wirklichen verhält, und das ist doch schon ein gar nicht zu umfassendes Mißverhältnis. Das sehe ich klar, wenn ich Deinen lieben zuversichtlichen gestrigen Brief lese, bei dessen Schreiben Du ganz die Erinnerung, in der Du mich von Berlin her hältst, vergessen haben mußt. Nicht das Leben dieser Glücklichen, die Du in Westerland vor Dir hergehen siehst, erwartet Dich, nicht ein lustiges Plaudern Arm in Arm, sondern ein klösterliches Leben an der Seite einen verdrossenen, traurigen, schweigsamen, unzufriedenen, kränklichen Menschen, der, was Dir wie ein Irrsein erscheinen wird, mit unsichtbaren Ketten an eine unsichtbare Literatur gekettet ist, und der schreit, wenn man in die Nähe kommt, weil man, wie er behauptet, diese Kette betastet.

Dein Vater zögert mit der Antwort, das ist selbstverständlich, aber dass er auch mit den Fragen zögert, scheint mir zu beweisen, dass er nur ganz allgemeine Bedenken hat, welche eine Auskunft - gänzlich lügenhafter Weise - mehr als nötig beseitigen wird, dass er aber gerade über jene Stelle meines Briefes, die mich verraten könnte, unachtsam, weil dies gänzlich außerhalb seiner Erfahrung liegt, hinweggeht. Das darf nicht sein, sagte ich mir heute die ganze Nacht und entwarf einen Brief der ihm das klar machen sollte. Er ist nicht fertig, ich schicke ihn auch nicht weg, es war nur ein Ausbruch, der mich nicht einmal erleichtert hat.

Franz




entwarf einen Brief: Vgl. Tagebücher (21. August 1913), S. 318ff


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at