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An Felice Bauer

5. IV. 13
 


Gestern, Felice, bekam ich überraschend Deinen Brief; um 7 Uhr abends, als ich nachhause kam, reichte mir ihn unten die Hausmeisterin. Der Briefträger war zu faul gewesen, in das 4te Stockwerk hinaufzusteigen. Wie friedlich und lieb Du schreibst! Als wäre noch bis zu diesem äußersten Schritt ein Schutzengel mit mir gegangen, hatte ich, als ich mich entschlossen hatte, nicht alles aber das meiste zu sagen, gezierte, undeutliche Worte gebraucht und sie schließlich doch für verständlich gehalten. Nun kann ich aber nicht mehr zurück, aus diesem letzten Schritt kann ich doch keinen Spaß machen, wenn er wahr gemeint war und unbedingt notwendig war und ist. Auch habe ich in dem Brief, den Du gestern mit der zweiten Post bekommen hast, und auch in dem, welcher Dich wahrscheinlich heute auffindet, schon zu viel gesagt; dass ich heute ohne Nachricht von Dir bin, ist wohl eine Wirkung dessen [*].

Nein, Felice, mein Aussehn ist nicht meine schlimmste Eigenschaft. "Wäre schon Pfingsten!" Dieser Wunsch bricht aus mir jetzt (jetzt!) in voller Narrheit los, jetzt, wo es doch kaum einen unsinnigeren Wunsch für mich geben kann als gerade diesen. Vorgestern ging ich an der Ankunftshalle des Staatsbahnhofes vorüber. Ich dachte an nichts Böses und nichts Gutes und bemerkte kaum die paar dort stehenden Dienstmänner, armselig angezogene Familienväter, die, wie es zu diesem Beruf in Prag gehört, sich die Augen wischten, gähnten und herumspuckten. Ohne gleich die Beziehung zu verstehen, wurde ich neidisch auf sie (was an sich nichts Besonderes gewesen wäre, denn ich beneide jeden und denke mich in jeden mit Lust hinein) und erst später fiel mir ein, dass bei diesem Neide der Gedanke an Dich beteiligt war, dass wahrscheinlich diese Dienstmänner auch hier gestanden waren, als Du zum erstenmal den Fuß von der Bahnhofsschwelle auf das Trottoir senktest, dass sie zusahen, wie Du einen Wagen mietetest, den Träger entlohntest, einstiegst und verschwandest. Irgendwo durch das Gedränge eines großen Verkehrs Deinem Wagen nachzulaufen, ihn nicht aus den Augen verlieren, durch kein Hindernis mich beirren lassen, das wäre vielleicht eine Aufgabe; der ich gewächsen wäre. Sonst aber? Was denn sonst?

Franz


Aus dem beiliegenden Brief kannst Du sehn, einen wie liebenswürdigen Verleger ich habe. Er ist ein wunderschöner, etwa 25jähriger Mensch, dem Gott eine schöne Frau, einige Millionen Mark, Lust zum Verlagsgeschäft und wenig Verlegersinn gegeben hat.


* (Zwischen den Zeilen) Nein, nun ist Dein Expreßbrief gekommen. Liebste, meine Angst muß Dir, die Du jenen Brief nicht verstanden hast und nicht verstehen konntest, idiotisch vorkommen ; es ist aber eine schrecklich begründete Angst.


[Beigelegt]

Kurt Wolff an Franz Kafka


Briefkopf des Kurt Wolff Verlags


Herrn Dr. Franz Kafka

Prag

Nikolasstr. 36

den 2. April 1913


Sehr verehrter Herr Doktor Kafka! Ich bitte Sie sehr herzlich und sehr dringend, schicken Sie mir doch freundlichst zur Lektüre möglichst sofort das erste Kapitel Ihres Romans das, wie Sie und ja auch Herr Dr. Brod meinen, gut einzeln veröffentlicht werden könnte, und schicken Sie mir doch auch freundlichst gleichzeitig die Abschrift oder die Handschrift der Wanzengeschichte. Ich reise Sonntag für einige Wochen ins Ausland und möchte gern vorher beides gelesen haben.

Ich würde es als eine besondere Liebenswürdigkeit Ihrerseits auffassen, wenn Sie meinem Wunsch nachkämen.

Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder und etwas behaglicher als letzthin in Leipzig.

Ihr sehr ergebener Kurt Wolff




Kurt Wolff: Im Herbst 1912 hatte Kurt Wolff den Ernst Rowohlt Verlag übernommen; seit Mitte Februar 1913 führte er ihn unter seinem Namen weiter. Der zweite Rowohlt Verlag wurde im Februar 1919 in Berlin gegründet.


Letzte Änderung: 8.6.2016werner.haas@univie.ac.at