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An Felice Bauer

4.IV.13 [vermutlich in der Nacht vom 4. zum 5.April 1913]
 


In der vorletzten oder vorvorletzten Nacht träumte ich fortwährend von Zähnen; es waren nicht Zähne im Gebiß geordnet, sondern es war eine Masse genau, wie in den Geduldspielen der Kinder, zusammengefügter Zähne, die alle unter einander von meinen Kiefern gelenkt in schiebender Bewegung waren. Ich wandte alle Kraft an, um etwas zum Ausdruck zu bringen, was mir vor allem andern am Herzen lag; die Bewegungen dieser Zähne, die Lücken zwischen ihnen, ihr Knirschen, das Gefühl wenn ich sie lenkte - alles hatte irgendeine genaue Beziehung zu einem Gedanken, einem Entschlusse, einer Hoffnung einer Möglichkeit, die ich durch dieses ununterbrochene Beißen erfassen, halten, verwirklichen wollte. Ich gab mir solche Mühe, manchmal schien es möglich, manchmal dachte ich ich wäre mitten im Erfolg, und als ich früh endgültig aufwachen sollte, schien es mir beim halben Öffnen der Augen, alles sei gelungen, die Arbeit der langen Nacht sei nicht vergeblich gewesen, die endgültige, unveränderliche Zusammenstellung der Zähne habe eine zweifellose glückbringende Bedeutung, und es kam mir unbegreiflich vor, dass ich das während der Nacht nicht längst erkannt hatte und so hoffnungslos gewesen war, ja gemeint hatte, das deutliche Träumen schade dem Schlaf. Dann aber wurde ich gänzlich wach (da ruft immer unser Fräulein mit klagender, vorwurfsvoller Stimme wie spät es ist), und nun war also doch nichts erreicht, diese Unglückszeit des Bureaus fing wieder an und Du Liebste, das wußte ich allerdings damals nicht, hattest die Nacht mit Zahnschmerzen verbracht.

Weißt Du, Liebste, diese Mischung von Glück und Unglück, die mein Verhältnis zu Dir bedeutet (Glück - weil Du mich noch nicht verlassen hast und wenn Du mich verlassen solltest, mir doch einmal gut gewesen bist, Unglück - weil ich die Probe auf meinen Wert, die Du für mich bedeutest, so elend bestehe), jagt mich im Kreis herum, als wäre ich der Überflüssigste auf dieser Welt. Alle Hemmungen, die bisher (jeder Mensch hat oft Proben zu bestehen, ich habe wenige bestanden und keine war so groß und entscheidend wie diese) mich noch hielten, scheinen sich zu lösen, ich gehe in einer sinnlosen Verzweiflung und Wut herum, nicht vielleicht gegen meine Umgebung, gegen meine Bestimmung, gegen das, was über uns ist, sondern nur und mit Wollust gegen mich gegen mich allein. Am schlimmsten vielleicht geht es mir im Bureau, diese an und für sich gespensterhafte Tätigkeit beim Schreibtisch überwächst mich, ich bringe nichts fertig, manchmal hätte ich Lust, mich dem Direktor zu Füßen zu werfen und ihn zu bitten, mich aus Menschlichkeit nicht hinauszuwerfen. Natürlich merkt kaum jemand etwas von alledem. Und vielleicht wird alles von übermorgen ab besser, ich werde nachmittag bei einem Gärtner arbeiten, darüber schreibe ich Dir nächstens.

Franz



unser Fräulein:Vgl. Anm. 1 S. 82.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at