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An Felice Bauer
Zuerst, Liebste, um es nicht immer wieder zu verschieben (es hat Dir vielleicht
schon Sorgen gemacht), schicke ich Dir das Bild Deines Nichtchens zurück.
Ja, dieses Kindchen verdient geliebt zu werden. Dieser ängstliche
Blick, wie wenn man dort im Atelier alle Schrecken der Erde gezeigt hätte!
Und dabei hält sie doch die Hände an der Lehne und an der Hüfte,
gerade infolge ihrer Selbstvergessenheit, wie eine große Dame. Und
ich wage sogar den Widerspruch zu meinem Nachmittagsbrief und behaupte,
dass ich die kleine Wilma, wie sie da auf ihrem Polster sitzt, lieb
habe. (Wer kann freilich sagen, ob nicht bloß Deinetwegen?) Hast
Du in Deinem Medaillon ein anderes Bild? Und könnte ich auch das noch
sehn?
Der Brief Deiner Schwester hat mich sehr unterhalten, ich möchte fast
sagen, er hat mich - verstehe mich recht - erschüttert. Nicht, weil
sie sich ganz dem Kind unterordnet, sie tut es in keiner besonders charakteristischen
Art - sondern weil sich darin eine so offene Natur förmlich in einem
Schwall, in einer nicht zu erfindenden Menge kleiner zusammenpassender
und vor allem ganz gleichförmiger Details darstellt. Die Bemerkungen
über die Geschwister die Aufzählung der Geschenke - die Aufzählung
der Zollspesen. Liebste, bitte versteh mich recht, es hat nichts mit der
selbstverständlichen Achtung, ja Ehrerbietung zu tun, die ich vor
Deiner Schwester habe, wenn ich solche Bemerkungen mache. Eben dort, wo
scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist, ergreift
es mich immer. Ich denke daran, wie ich vorgestern abend, mit meinem Unglück
übergenug beschäftigt, knapp vor mir aus einem Haustor einen
Bekannten, den Besitzer oder vielmehr den Sohn des Besitzers einer jüdischen
Buchhandlung treten sah. Er dürfte wohl schon 40 Jahre alt sein, einmal
vor Jahren war er verlobt, mit einem großen, starken Mädchen,
die Verlobung ging dann zurück, da er nicht genug Geld bekam. Später,
auch schon vor vielen Jahren, heiratete er eine zarte, sehr bewegliche
Frau. Ich erinnere mich, wie sie bei uns in unserer früheren Wohnung
zu Besuch waren und wie diese Frau so sonderbare abgehackte Reden führte.
Es scheint mir jetzt fast, als hätte sie auch am hellen Tag eine Schleppe
gehabt und diese Schleppe mit dem Fuß immer zur Seite geworfen. Diese
Frau wurde nach wenigen Wochen verrückt - man sagte, der Mann oder
vielmehr die Eltern des Mannes hätten es zum großen Teil verschuldet
-kam ins Irrenhaus, die Ehe wurde geschieden und der Mann mußte (zur
besondern Befriedigung meines Vaters, der die Ereignisse in dieser Familie
mit Anteilnahme und nicht ohne Schadenfreude verfolgte) die Mitgift zum
großen Teil wieder herausgeben, so sehr er sich wehrte. Der Mann
war also wieder frei, heiratete aber nicht mehr, wahrscheinlich verlangten
es seine Eltern, denen er immer grenzenlos ergeben war, nicht mehr. Er
war niemals selbständig, sondern sitzt, seitdem er die Schule verlassen
hat, also ein kleines Menschenalter, in dem winzigen Geschäft, in
dem kaum für einen Menschen Arbeit ist, staubt mit Hilfe eines Dieners
die ausgehängten Gebettücher ab, steht bei warmem Wetter in der
offenen Ladentür (früher wechselte er darin mit seinen Eltern
ab, die jetzt meist krank sind), wenn es kalt ist, steht er hinter der
mit Büchern besteckten Tür und schaut durch die Lücken zwischen
diesen meist unanständigen Büchern auf die Gasse hinaus. Er fühlt
sich als Deutscher, ist Mitglied des hiesigen deutschen Casinos, einer
zwar allgemeinen, aber unter den hiesigen Deutschen doch vornehmsten Vereinigung,
und geht nun wahrscheinlich jeden Abend, nachdem das Geschäft geschlossen
ist und er genachtmahlt hat, in das "Deutsche Haus". So war
es auch vorgestern abend, als ich ihn zufällig beim Verlassen seines
Hauses erblickte. Er ging vor mir her, wie der junge Mann, als den ich
ihrs eben immer noch in der Erinnerung habe. Sein Rücken ist auffallend
breit, er geht so eigentümlich stramm, dass man nicht weiß,
ob er stramm oder verwachsen ist; jedenfalls ist er sehr knochig und hat
z.B. einen mächtigen Unterkiefer. Begreifst Du nun, Liebste, kannst
Du es begreifen (sag es mir! ), warum ich diesen Mann geradezu lüstern
durch die Zehnergasse folgte, hinter ihm auf den Graben einbog und mit
unendlichem Genuß ihn im Tor des "Deutschen Hauses" verschwinden
sah?
Es ist spät, Du hast eine Wendung, Felice, die Du gar nicht brauchst,
gib sie mir und laß mich schreiben: "Behalt mich lieb!"
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at