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An Felice Bauer

23. II. 13
 


Nur paar Worte, Liebste, denn es ist schon spät, und ich will noch ein wenig an die Luft kommen, ehe ich dann zu Max gehe. Ich habe den Tag, wie es sich gebührt (denn ich gehörte entweder ins Bett oder nach Dresden), zum größten Teil im Bett verbracht und meine zwei einzigen, allerdings schrecklichen Abenteuer bestanden darin, dass mich der Vater aus dem Vormittagsschlaf durch ein wahnsinniges, einförmiges, ununterbrochenes, immer wieder mit frischer Kraft einsetzendes Geschrei und Singen und Händeklatschen, mit dem er einen Großneffen belustigte, allmählich und trotz alles Widerstandes unbedingt in diese trostlose Welt herausschleppte, während er am Nachmittag das gleiche zur Unterhaltung seines Enkels ausführte. Du Liebste, es gehört Tugend dazu, um ein solches Treiben, wenn es einem zwar begreiflich (es ist des Vaters einzige Freude), im Innersten aber ganz unverständlich ist (die Tänze der Neger sind mir verständlicher), ohne unkindliche Flüche auszuhalten. So auf einem zu trommeln! Besonders am Nachmittag, war mir jeder Schrei wie ein Faustschlag ins Auge. Und dabei zu denken, dass ich vor vielen Jahren auf die gleiche Weise unterhalten worden bin. Allerdings lag damals niemand im Nebenzimmer und litt darunter. Und doch, es ist ja vielleicht gar nicht das Geschrei, das mich so angreift, es gehört überhaupt Kraft dazu, Kinder in der Wohnung zu ertragen. Ich kann es nicht, ich kann nicht an mich vergessen, mein Blut will nicht weiter strömen, es ist ganz verstockt, und dieses Verlangen des Blutes stellt sich ja als Liebe zu Kindern dar. Ich denke nach, ob ich mir wegen der zeitweiligen Anwesenheit meines Neffen und meiner Nichte, die ja heranwachsen und immer lauter werden, nicht irgendwo ein eigenes Zimmer nehmen und von zuhause auswandern soll. Einmal vor Jahren war ich schon, allerdings aus andern Gründen, ganz nahe daran, schließlich habe ich mich doch zurückhalten lassen.

Wo bist Du, Liebste, heute? Ich habe Dich ja aus den Augen verloren. Bleibst Du in Dresden oder fährst Du schon abend zurück? Es war eile schöner Tag, und im Halbschlaf bin ich oft in Dresden herumgegangen. In dem darauf folgenden Erwachen habe ich dann aber meine augenblicklichen, wirklichen oder eingebildeten Leiden (in der Wirkung ist bei genügender Kraft der Einbildung natürlich kein Unterschied) zusammengezählt und bin bis zur Zahl 6 gekommen, was genügender Grund zur Verdrießlichkeit und Kopfhängerei wäre, wenn nicht auf der andern Seite Du, Liebste, wärest, die Du diesen Leidenskomplex doch ausstehen kannst, wofür der Dank und gleichzeitig die Strafe nur ein unendlicher Regen von Küssen sein könnte.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at