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[An Felice Bauer]
[Prag, 15. Dezember 1912; Sonntag]

Sonntag

Liebste, keinen Augenblick Zeit und Ruhe für mich, also auch nicht für Dich. Und dabei habe ich Dir so viel zu sagen und zu Deinen letzten vier Briefen von gestern und heute (denke nur, Dein Brief vom 11. aus der Straßenbahn kam erst gestern an, also einen Tag später als Dein Brief vom 12., in dem Du mir die Photographie erklärtest) so viel zu antworten. Und wie brauche ich gerade jetzt Deine Briefe, weil ich so dumpf und sinnlos bin. Als man mir heute früh Deinen Expreßbrief brachte und ich erwachte, war mir, als hätte ich die ganze Nacht auf dieses, gerade dieses Gewecktwerden gelauert. Und mit Deinem Bild im Bett, was war das für ein guter Aufenthalt. Alles Traurige war von mir abgehalten und mußte vor dem Bett warten, solange ich im Bett blieb, war ich vor allem bewahrt.
Es ist wohl das lebendigste Bild, das ich von Dir habe. Der Einjährig-Freiwillige soll gesegnet sein! Die Hand an der Hüfte, die Hand an der Schläfe, das ist Leben, und da es das Leben ist, dem ich gehöre, ist es durch Anschauen gar nicht zu erschöpfen. Ist es Dein Zimmer? Ist es nicht das Deine? Für beides spricht manches. Das Tischchen dürfte an der Stelle stehn, an welcher auch das Deine steht, dann wäre gegenüber das Bett. Aber diese vielbehängten Wände beirren mich wieder, Du hast sie auch bei der Beschreibung Deines Zimmers nicht erwähnt. Wozu hättest Du Bierkrüge aufgehängt an der übrigens riesig hohen Wand? Wozu stünde vorn ein Herrenstock, dessen Griff man sieht? Vielleicht ist es also nur das Studierzimmer Eueres Gastes. Deine Haltung ist prachtvoll, ich rufe Dich bei Deinem Namen an und Du wendest Dich mir nicht zu, trotzdem ich es erwartet habe. Auf allen Bildern an der Wand (bis auf jenes, das einen Mann im Barett darstellt) suche ich Dich und habe Dich vorläufig auf drei gefunden. Wenn es richtig ist, so bestätige es, wenn ich falsch sehe, so laß mir den Glauben. Wie biegsam Du dastehst! Hätte ich Dich doch tanzen gesehn! Turnst Du schon seit jeher?
Dein heutiger Expreßbrief ist ruhig, darf ich aber der Ruhe vertrauen? Ich habe ihn gewissermaßen von allen Seiten gelesen, ob sich nichts Verdächtiges an ihm entdecken ließe. Aber wie erhält man plötzlich Frische und Munterkeit nach Leid und Müdigkeit? Nur meinetwegen, um mir nicht Sorgen zu machen? Nein, Liebste, so schlecht kann es doch nicht mit Dir stehn, dass Du es mir verbergen wolltest. Ich bin doch dazu da, alles zu hören, verstellen muß man sich nur vor seinen Eltern, und wenn ich nicht dazu da bin, alles zu hören, dann verdiene ich überhaupt nicht dazusein.
Liebste, die Sache mit den Briefen ist im ersten Augenblick schlimm und unheilbar und man glaubt, man bekommt den Druck aus der Kehle nicht mehr heraus. So war es doch auch bei mir, wenn es natürlich auch bei mir eine viel weniger unmittelbare Bedeutung hatte. Nun, es gibt vielleicht Mütter, welche die Briefschaften ihrer Kinder nicht lesen, wenn sie so leichte Möglichkeit dazu haben, aber ich fürchte, weder Deine Mutter noch die meine gehört zu diesen Müttern. Wir sagen also, um unser Denken und unsere Sorgen zu vereinfachen, sie hat die Briefe gelesen und vielleicht nicht nur sie sondern auch die Schwester, deren Auskunft am Telephon mir gar zu verdächtig kurz und bestimmt wenigstens in Deiner Beschreibung klingt. Ich denke deshalb, da Deine Mutter nur selten in Dein Zimmer kommt, die Schwester habe die Briefe zuerst gefunden und dann Deine Mutter dazugerufen. Und nun haben sie beide gelesen, bis sie durch Deinen Telephonanruf gestört wurden. Wer kam zuerst zum Telephon? Und wer kommt gewöhnlich? Waren es alle Briefe oder nur ein Teil und welcher? Ich kann mir augenblicklich (nach meiner Geistesverfassung gehöre ich unbedingt ins Bett, und an einen andern als Dich wagte ich so gewiß nicht zu schreiben, aber gehören Dir nicht alle meine Zustände, der schlechteste wie der beste?) augenblicklich kann ich mir den Eindruck nicht vorstellen, den die Briefe in der übrigens schwer lesbaren Schrift auf die Mutter und Schwester machten, zumal sie doch wohl daran glauben und es wahrscheinlich auch in den Briefen bestätigt gefunden haben, dass wir nicht vielmehr als eine Stunde in unserem ganzen Leben und dies in der förmlichsten Weise beisammen waren. Wie sie diese Tatsache und den Inhalt der Briefe in Verbindung, wenigstens in eine landläufige Verbindung zu bringen imstande sind, das ist es eben, was ich ohne weitere Anzeichen nicht erraten kann. Die naheliegendste, einfältigste und deshalb nicht ganz glaubwürdige Annahme wäre, dass sie mich für nahe dem Irrsinn halten, Dich von mir angesteckt, deshalb aber für doppelt schonungsbedürftig, dann müßtest Du, was kein übler Erfolg meiner Briefe wäre, ganz zart behandelt werden, was allerdings innerhalb einer Familie auch die gröbsten Kränkungen miteinschließen kann. Jedenfalls müssen wir warten, auch ist das Gleichgewicht zwischen uns noch nicht vollkommen, denn ich habe von Deiner Mutter noch keinen Brief. Arme Liebste, eingeklemmt zwischen einen rücksichtslosen Plagegeist und eine aufpassende Familie. Wenn die Mutter etwas Deutlicheres sagen will, dann war die Überreichung meines Sonntagsbriefes die nächste beste Gelegenheit, und ich höre schon morgen etwas darüber.
Jetzt höre ich auf, nicht um schlafen zu gehn, dazu ist schon zu spät, auch werde ich heute abend nichts machen. Ich laufe nur noch zur Bahn, den Brief einwerfen, dann aber muß ich unbedingt und höchst notwendig zu Brods. Frau Sophie ist nämlich früh plötzlich gekommen (abend hat Max Verlobung) ich habe schon ein wenig mit ihr gesprochen, aber wie das so geht, waren es nur Vorbereitungen des Eigentlichen und ich fürchte, ich werde auch jetzt in meiner Verfassung nicht mehr erreichen. Als ich von ihrer Ankunft hörte, hatte ich förmlich einen Anhauch Deiner Nähe und die gespanntesten Erwartungen. Dabei aber wird es wohl bleiben.

Franz


Sonntag: 15. Dezember 1912.
Sophie: Sophie Friedmann.
noch keinen Brief: Kafka spielt auf einen Brief an, den Felice Bauer von seiner Mutter, Julie Kafka, bekommen hat.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at