Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Julie Kafka an Felice Bauer]
[Prag, 16. November 1912; Samstag]

Prag, 16. XI. 1912

Sehr geehrtes Fräulein!
Ich habe durch Zufall einen an meinen Sohn adressierten Brief vom 12./11. datiert und mit Ihrer w. Unterschrift verseh'n zu Gesicht bekomen. Ihre Schreibweise gefiel mir so sehr, dass ich den Brief zu Ende las, ohne zu bedenken, dass ich dazu nicht berechtigt war.
Ich bin aber sicher, dass Sie mir verzeihen, wenn ich Sie versichere, dass nur das Wohl meines Sohnes mich dazu trieb.
Ich habe zwar nicht das Vergnügen, Sie persönlich zu kennen und trotzdem habe ich zu Ihnen so viel Vertrauen, um Ihnen, liebes Fräulein, die Sorgen einer Mutter anzuvertrauen.
Vieles trägt dazu die Bemerkung in dem von Ihnen geschriebenen Brief
[bei], er möge mit seiner Mutter sprechen, die ihn sicher liebt. Sie haben, liebes Fräulein, die richtige Meinung von mir, was freilich selbstverständlich ist, denn gewöhnlich liebt eine jede Mutter ihre Kinder, aber so, wie ich meinen Sohn liebe, kann ich Ihnen nicht schildern und würde gerne einige Jahre meines Lebens hergeben, wenn ich sein Glück damit erkaufen könte.
Ein anderer Mensch an seiner Stelle würde der Glücklichste unter den Sterblichen sein, denn kein Wunsch wurde ihm von seinen Eltern je versagt. Er studierte, zu was er Lust hatte, und da er kein Advokat werden wollte, so wählte er die Laufbahn eines Beamten, was ihm ganz gut zu passen schien, da er einfache Frequenz hat und den Nachmittag für sich verwenden konnte.
dass er sich in seinen Mußestunden mit Schreiben beschäftigt, weiß ich schon viele Jahre. Ich hielt dies aber nur für einen Zeitvertreib. Auch dies würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter. Er schläft und ißt so wenig, dass er seine Gesundheit untergräbt und ich fürchte, dass er erst zur Einsicht kommt, wenn es Gott behüte zu spät ist. Darum bitte ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen und ihn
[zu] befragen wie er lebt, was er ißt, wieviel Mahlzeiten er nimmt, überhaupt seine Tageseintheilung. Jedoch darf er keine Ahnung haben, dass ich Ihnen geschrieben habe, überhaupt nichts davon erfahren, dass ich um seine Correspondenz mit Ihnen weiß. Sollte es in Ihrer Macht stehen, seine Lebensweise zu ändern, würden Sie mich zum großen Dank verpflichten und zur Glücklichsten machen         Ihre Sie schätzende     Julie Kafka

Sollten Sie die Absicht haben, mir zu schreiben, so bitte den Brief zu adressieren: Prag, Altstädter Ring, Kinsky-Palais: 16 Privat.


m,n: Im Brief ein "m" bzw. "n" mit darüberliegendem Querstrich, um die Verdoppelung des Lauts anzuzeigen. Wie es scheint, ist es zur Zeit nicht möglich, diesen Buchstaben in einem HTML-Dokument darzustellen.
einfache Frequenz: Durchgängige Dienstzeit (ohne Mittagsunterbrechung), die schon um 2 oder ½3 endete.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at