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[An Felice Bauer]
[Prag, 10. Dezember 1912; Dienstag]

10. XII. 12

Nicht damit Du einen Brief um 10 Uhr auch von mir hast, schreibe ich Dir jetzt spät nach dem Bureau, denn wenn ich keine Zeit habe, willst auch Du nicht dass ich schreibe, sondern ich schreibe Dir bloß meinetwegen, um morgen um 10 Uhr das Gefühl zu haben, einen Augenblick lang in Deine liebe, glückbringende Nähe gekommen zu sein. Liebste, nicht das Blindsein in unsern beiden Träumen macht mich am meisten erstaunt, sondern das wirkliche Leid, das Du am Sonntag gehabt zu haben scheinst, zu einer Zeit also, wo ich um Dich in besonderer, durch Deinen Sonntagbrief nicht eigentlich begründeter Sorge war.
Was ist denn am Sonntag bei Euch geschehn? Dein Sonntagabendbrief ist ja voll Rätsel. Und im Brief vorher sagtest Du, Du wolltest keine Geheimnisse vor mir haben und nun hast Du gar Geheimnisse vor mir, die Deine Leiden betreffen, auf die ich gerade (nicht auf die Leiden, wenn ich auch das leider oft wahr mache) besondern Anspruch zu haben glaube. Schreibe mir doch, Liebste, darüber paar Worte. Du siehst aus meinem Sonntagsbrief, dass ich mit Dir leide, auch wenn ich nicht weiß, dass Du leidest, aber mit jemanden leiden, ohne die Ursachen zu wissen, ist doppelt arg. Ich bin heute seit 10 Uhr nicht mehr unruhig, denn Dein Brief vom Montag, durchdrungen von Liebe, Güte und fast auch Frische, hat mich wieder ins Geleise gebracht. (Ich hatte gerade paar Seiten dieses Briefes gelesen, da kam ein Tischlermeister mit einem Ansuchen wegen der Versicherung seines Betriebes zu mir, ich bewilligte ihm eiligst alles, was er wollte, und werde das niemals vor Menschen, wohl aber vor Gott verantworten können.) Aber über den Sonntag muß ich doch noch Aufklärung bekommen. Warum warst Du den ganzen Tag über nicht spazieren? Und warum warst Du doch noch Sonntag abend so müde und erhofftest Frische vom Montag, also von einem Arbeitstag? Ich sah es schon dem Sonntagvormittagbrief an, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber was denn, was denn? So muß einem Blinden zumute sein, wenn vor ihm etwas vorgeht, was zu ihm die größte Beziehung hat, aber er hört nur undeutliche Geräusche, kann selbst nicht hin und man erklärt es ihm auch nicht. Dein heutiger zweiter Brief hat mich ja vollständig beruhigt, aber ich wüßte doch gern, schon wegen zukünftiger Möglichkeiten, was für Plagen und Leiden Dich bedrohen.
Einen langen Kuß auf den wehmütigen Mund des Mädchens auf der letzten Photographie und Zuspitzen des Mundes für das kommende Negermädchen.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at