Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, 9. Dezember 1912; Montag]

vom 9. zum 10.XII.12

Meine Liebste, wie diese verfluchten Unterbrechungen meinen Arbeiten schaden, das ist zum Trübsinnigwerden. Gestern noch habe ich mich mit Mühe vom Arbeiten zurückgehalten, dann kam die Reise dazwischen und schon habe ich heute sehr mittelmäßig, wenn auch glücklicher Weise nur wenig geschrieben. Nein, gar nicht davon reden!
Was mich mit der Reise aussöhnt, ist einzig das, dass sie auch für die Anstalt nutzlos war, wenn es mich natürlich auch auf der andern Seite wieder kränkt. Schließlich ist die ganze Reise zu einem Verwandtenbesuch - ich habe in Leitmeritz Verwandte - zusammengeschrumpft, denn die Verhandlung, bei welcher ich die Anstalt vertreten sollte, ist vor 3 Tagen auf unbestimmte Zeit verlegt worden, ohne dass - infolge eines Irrtums der Gerichtskanzlei - unsere Anstalt davon verständigt worden wäre. Von dem aus gesehn bekommt es eine besondere Bedeutung wie ich da eiligst fast noch in der Nacht von zuhause abmarschiere, in einer feinen Kälte durch die Gassen wandere - vorbei am zwar schon beleuchteten, aber verhängten Frühstückzimmer des "Blauen Stern", nun schaut zwar wieder jemand verlangend hinein, aber niemand mehr auf die Gasse heraus - wie ich dann weiter diese Nachtfahrt in der Eisenbahn zwischen schlafenden Herrschaften mitmache, die zwar schlafen, aber immer noch genug irregeführten Bewußtseins haben, um aus dem Schlaf heraus die von mir auf "kalt" immer wieder gestellte Heizung auf "warm" immer wieder zurückzudrehn und den überhitzten Raum weiter zu überhitzen, wie ich dann schließlich eine halbe Stunde lang in einer Landkutsche durch nebelige Alleen und mit Schnee bloß bestreute Felder oder Wiesen fahre - und immer unruhig, immer unruhig und wäre es auch nur über die Stumpfheit meines Blicks, mit dem ich das alles ansehe. Dann bin ich endlich um 8 Uhr morgens vor dem Geschäft meiner Verwandten in der Langen Gasse in Leitmeritz und genieße in dem noch aus der Kindheit her bekannten Kontor meines Onkels (eigentlich eines Stiefonkels, wenn es etwas Derartiges geben sollte) die Frische und unverdiente Überlegenheit, die von einem Reisenden ausgeht, der zu jemandem kommt, der eben erst aus dem Bett gekrochen ist und in Filzpantoffeln im kaum geöffneten kalten Laden vergebens sich zu erwärmen sucht. Dann kam die Tante (um genau zu sein, die Frau meines schon vor vielen Jahren verstorbenen wahren Onkels, die nach dessen Tode den Geschäftsführer, eben diesen Stiefonkel, geheiratet hat) eine jetzt kränkliche, aber noch immer sehr lebendige, kleine, runde, schreiende, händereibende, mir seit jeher angenehme Person.
Aber nun muß ich sie hier weiterlärmen lassen, denn im Nebenzimmer schlägt es 3 Uhr morgens und das Kind muß schlafen gehn. Liebste, zu Deinem heutigen Brief habe ich Dir so viel zu sagen! Bitte sieh mich nicht als irgendein Wunder an, um unserer Liebe willen, tu das nicht. Es sieht ja dann aus, als ob Du mich von Dir entfernen wolltest. Ich bin im Grunde, soweit es nur auf mich ankommt und solange Du Dich nicht in meiner Nähe zeigst, ein sehr armer und unglücklicher Mensch; was an mir außergewöhnlich ist, ist es zum größten Teil im schlechten und traurigen Sinn und besteht, wie Du am Anfang Deines Briefes richtig geahnt hast, ohne es zu Ende zu denken, - besteht in der Hauptsache darin, dass ich nicht, statt nutzlos nach Leitmeritz zu fahren, mit eindeutigster Absicht nach Berlin fahren kann. Liebste, zieh mich also so nahe an Dich, als es diese meine traurige Außergewöhnlichkeit erlaubt. Und rede nicht von Großem, das in mir steckt, oder hältst Du es vielleicht für etwas Großes, dass ich wegen der zweitägigen Unterbrechung meines Schreibens diese zwei Tage mit der unausgesetzten Furcht verbringe, nicht mehr schreiben zu können, eine Furcht übrigens, die, wie der heutige Abend gezeigt hat, nicht so ganz sinnlos war. Und an unserem Abend, war denn das Herumhantieren mit dem Karton etwas anderes als Koketterie, Ängstlichkeit und wahrscheinlich gesellschaftliche Verzweiflung und Behaglichkeit in ihr. Gewiß hast Du es damals auch erkannt, wenn auch unbewußt, heute aber trübt sich Dir die Erinnerung, das soll sie nicht. Und an allem ist, möchte ich fast sagen, diese dumme Photographie schuld, die ich so lange gezögert habe wegzuschicken und die nun einerseits mir geschadet hat, andererseits mir aber noch nichts genützt hat, denn Deine letzte Photographie habe ich noch nicht, trotzdem sie längst fertig sein müßte. Liebste, nahe sollst Du mich zu Dir nehmen, nahe, nahe, so nahe wie ich mich zu Dir dränge, wie ich Dir während der ganzen Fahrt war, im Zug, im Wagen, bei den Verwandten, bei Gericht, auf der Gasse und im Feld. Ich schob im Coupé meinen Nachbarn in Gedanken von der Bank herunter, setzte Dich statt seiner hin und nun sahen wir jeder in seiner Ecke ruhig den andern an.
Wie ist es nur mit Deinem schlechten Aussehn, Felice? Was verlangt die Mutter von Dir? (Darauf mußt Du gleich und genau antworten!) Worauf führt sie das schlechte Aussehn zurück? Was will sie geändert haben? Und welches ist Deiner Meinung nach der Grund? Und bist Du mit der Mutter schon ausgesöhnt? Du schienst mir unruhig in dem heutigen Brief. Und trotzdem Du mir unruhig schienst, bin ich so vernagelt, Dir auf den vorigen Seiten unnütze Lehren zu geben. Nun rede ich mich aber selbst in Unruhe hinein. Liebste, Dir fehlt doch nichts Ernstliches? Auf alle diese Fragen antworte bitte ganz genau. Alles andere auf den früheren Seiten ist gleichgiltig, sieh es für durchstrichen an, nur darauf antworte! Was finge ich denn an, wenn Du krank würdest! Liebste, darüber muß ich alles wissen, das ist meine wichtigste Angelegenheit. Nochmals: Ich bin noch nicht unruhig, aber ich würde es werden, wenn Du nicht genau antwortest. Du bist doch meine Liebste.

Franz


Verwandtenbesuch: In der Kreisgerichtsstadt Leitmeritz lebte Karoline Kohn, die wiederverheiratete Witwe seines Onkels, des Kaufmanns Heinrich Kafka. Der Name des Stiefonkels war Sigmund Kohn.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at