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[An Felice Bauer]
[Prag, 24. Oktober 1912; Donnerstag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

24.X.12

Gnädiges Fräulein!
War das heute eine tüchtig schlaflose Nacht, in der man sich gerade noch zum Schluß, in den letzten zwei Stunden, zu einem erzwungenen, ausgedachten Schlafe zusammendreht, in dem die Träume noch lange nicht Träume und der Schlaf erst recht kein Schlaf ist. Und nun bin ich außerdem vor dem Haustor mit der Trage eines Fleischergesellen zusammengerannt, deren Holz ich noch jetzt über dem linken Auge spüre.
Sicher werde ich durch solche Vorbereitung nicht in einen bessern Stand versetzt sein, die Schwierigkeiten zu überwinden, die mir das Schreiben an Sie macht und die mir auch heute in der Nacht in immer neuen Formen durch den Kopf gegangen sind. Sie bestehen nicht darin, dass ich das, was ich schreiben will, nicht sagen könnte, es sind ja die einfachsten Dinge, aber es sind so viele, dass ich sie nicht unterbringen kann in Zeit und Raum. Manchmal möchte ich in Erkenntnis dessen, allerdings nur in der Nacht, alles bleiben lassen, nichts mehr schreiben und lieber am Nichtgeschriebenen als am Geschriebenen zugrundegehn.
Sie schreiben mir von Ihren Theaterbesuchen und das interessiert mich sehr, denn erstens sitzen Sie dort in Berlin an der Quelle aller Theaterereignisse, zweitens wählen Sie Ihre Theaterbesuche schön aus (bis auf das Metropoltheater, in dem ich auch war, mit einem Gähnen meines ganzen Menschen größer als die Bühnenöffnung) und drittens weiß ich selbst vom Theater nicht das geringste. Aber was hilft mir dann wieder die Kenntnis Ihrer Theaterbesuche, wenn ich nicht alles weiß, was vorherging und was folgte, wenn ich nicht weiß, wie Sie angezogen waren, welcher Tag der Woche war, wie das Wetter gewesen ist, ob Sie vorher oder nachher genachtmahlt haben, was für einen Platz Sie hatten, in welcher und wie begründeter Laune Sie waren und so fort, wie weit sich nur denken läßt. Natürlich ist es unmöglich, mir das alles zu schreiben, aber so ist eben alles unmöglich.
Frau Sophies Geburtstag - um etwas rein und vollständig Mitteilbares zu schreiben - ist erst am 18. März und wann ist der Ihre, geradewegs gefragt?
Es ist nicht nur die Unruhe, wie sie eben im Bureau ist, die mein Schreiben hin- und hertreibt, so dass ich jetzt wieder etwas ganz anderes frage: Ich habe beiläufig alles im Gedächtnis, was Sie an jenem Abend in Prag sagten, soweit man zu solchen Überzeugungen Vertrauen haben kann, nur eines ist mir nicht ganz klar, wie mir beim Lesen Ihres Briefes einfällt und das sollen Sie mir ergänzen. Als wir von der Wohnung mit dem Hr. Direktor Brod zum Hotel gingen, war ich überhaupt, um die Wahrheit zu sagen, verstört, unaufmerksam und gelangweilt, ohne dass, wenigstens meinem Bewußtsein nach, die Gegenwart des Hr. Direktors daran schuld gewesen wäre. Im Gegenteil, ich war verhältnismäßig zufrieden, mich allein gelassen zu fühlen. Da war nun auch die Rede davon, dass Sie wenig in den Abendverkehr des Stadtzentrums kommen, auch dann nicht, wenn Sie im Theater waren und dass Sie dann bei der Rückkehr durch eine besondere Art des Händeklatschens Ihre Mutter von der Gasse aus aufmerksam machen, die Ihnen dann das Haustor aufmachen läßt. Ist es in dieser etwas merkwürdigen Weise richtig? Und bestand bei dem Metropoltheaterbesuch die Ausnahme der Mitnahme des Schlüssels bloß wegen der besonders späten Rückkehr? Sind das lächerliche Fragen? Mein Gesicht ist ganz ernst, und wenn Sie lachen, so lachen Sie bitte freundlich und antworten Sie genau.
Im Frühjahr spätestens erscheint bei Rowohlt in Leipzig ein "Jahrbuch für Dichtkunst", das Max herausgibt. Darin wird eine kleine Geschichte von mir sein: "Das Urteil", welche die Widmung haben wird: "für Fräulein Felice B." Heißt das mit Ihren Rechten allzu herrisch umgegangen? Besonders da diese Widmung schon seit einem Monat auf der Geschichte steht und das Manuskript gar nicht mehr in meinem Besitze ist? Ist es vielleicht eine Entschuldigung, die man gelten lassen kann, dass ich mich bezwungen habe, den Zusatz (für Fräulein Felice B.) "damit sie nicht immer nur von andern Geschenke bekommt" wegzulassen? Im übrigen hat die Geschichte in ihrem Wesen, soweit ich sehen kann, nicht den geringsten Zusammenhang mit Ihnen, außer dass ein darin flüchtig erscheinendes Mädchen Frieda Brandenfeld heißt, also wie ich später merkte, die Anfangsbuchstaben des Namens mit Ihnen gemeinsam hat. Der einzige Zusammenhang besteht vielmehr nur darin, dass die kleine Geschichte versucht, von ferne Ihrer wert zu sein. Und das will auch die Widmung ausdrücken.
Schwer liegt es auf mir, dass ich nicht erfahren soll, was Sie mir auf meinen vorletzten Brief geantwortet haben. So viele Jahre sind vergangen, dass ich nichts von Ihnen gehört habe, und jetzt soll noch höchst überflüssiger Weise ein Monat der Vergessenheit hingeworfen werden. Ich werde natürlich bei der Post nachfragen, aber es ist wenig Aussicht, dass ich dort mehr erfahre, als Sie von jenem Brief noch im Gedächtnis haben. Könnten Sie mir das nicht in zehn Worten aufschreiben?
Endgiltiger Schluß, endgiltiger Schluß für heute. Schon auf der vorigen Seite haben die Störungen selbst in diesem stillern Zimmer, in das ich mich versteckt habe, angefangen. Sie staunen, dass ich im Bureau so viel freie Zeit habe (es ist eine erzwungene Ausnahme) und dass ich nur im Bureau schreibe. Auch dafür gibt es Erklärungen, aber keine Zeit, sie zu schreiben.
Leben Sie wohl und ärgern Sie sich nicht über das tägliche Unterschreiben der Recipisse.

Ihr Franz K.


spüre: Vgl. die im folgenden Monat entstandene Erzählung "Die Verwandlung": " ... und dann hoch über sie hinweg ein Fleischergeselle mit der Trage auf dem Kopf in stolzer Haltung ..."
ausdrücken: Vgl. Tagebücher (11. und 12. Februar 1913) und Kafkas Brief an Felice vom 2. Juni 1913
Recipisse: Zu jener Zeit sandte Kafka seine Briefe meistens eingeschrieben. "Recipisse" war das damals in Österreich übliche Wort für die vom Adressaten zu unterschreibende Empfangsbestätigung.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at