peter.mahr

<2023.2> Die Einführung in das Rock-Lexikon. Siegfried Schmidt-Joos nach 50 Jahren musiktheoretisch. 44.852 Zeichen. online 30. 9. 2023 .html


Publikumsgespräch der Rolling Stones,

späte 60er Jahre. Frauenstimme: „I wonder about

the truth of you. Are you anyhow satisfied now?“

Allgemeines Gelächter. Mick Jagger: „Do you mean,

do you mean sexually or philosophically?“ „Well, both.“

Yeah, we are satisfied now sexually.“ Frauenstimme:

And philosophically and financially?“ Mick Jagger:

Financially: dissatisfied. Sexually: satisfied.

Philosophically: we are trying.


1. Reminiszenzen

2. Die Einführung

3. Material, Progressiv, Ausdruck und Theodor W. Adorno

4. Rockmusiktheorie


1. Reminiszenzen

In jenen Jahren machten die Frankfurter, Tante Elli und Onkel Heinz, nach ihren Skiurlauben am Arlberg einen Abstecher zu uns in Innsbruck. Im Jänner 1974 war es wieder so weit. Wir standen am Balkon, mittags, Tauwetter, strahlend blauer Himmel mit warmer Sonne: Sie übergaben mir das Rock-Lexikon. Empfohlen hatte es ihre Tochter. Welch wunderbares Geschenk!

Mittlerweile in 25 Teile und Blätter zerfallen, ist das Rock-Lexikon so benutzt wie keines meiner Bücher sonst, mit Ausnahme vielleicht noch von zwei anderen. Die runde 400 einzelnen kurz(weilig)en, amüsanten, leichtfüßigen und bis heute hochinteressanten, herrlich zu lesenden über die vier folgenden Auflagen hin von Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves unveränderten und, wenn, lediglich ergänzten Einträge zu den Musiker:innen und Bands sind heute berühmt. Sie harren einer literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung. Ich las viele von ihnen mehrere oder viele Male, auch das Glossar. Manche Leser schrieben sie sogar ab, bis zum ganzen Buch, oder kannten sie auswendig, wie Schmidt-Joos und andere berichten. (Siegfried Schmidt-Joos, Wie das „Rock-Lexikon“ entstand, in: Populäre Musik und ihre Geschichte. Sammeln – Forschen – Publizieren Eine gemeinsame Tagung des Instituts für Musikwissenschaft Weimar Jena (Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar) und des Lippmann+Rau Musikarchivs Eisenach, 27./28. Januar 2023. Tagungsdokumentationen, hg. v. Martin Pfleiderer u. Simon Bretschneider, Weimar und Eisenach, April 2023, https://www.lippmann-rau-stiftung.de/l-r-musikarchiv/archivtagung 2023/ oder https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00055914)

Nur die Einführung war mir zu schwer. Wenn ich sie damals und später absatzweise überflog, war mir nicht viel mehr als die Genealogie-Tafel von Seite 18 ein Begriff. Eher machte ich mir ein theoretisches Bild der Sache anhand der Einträge selbst, dann der Text-/Bildinformation der von uns Freunden besessenen LP-Cover, weiters der am Innsbrucker Bahnhofskiosk verkauften deutschen Monatsschrift Sounds und natürlich durch die Diskussionen mit meinen Freunden.

Zwar waren die einschlägigen Passagen zur Rockmusik in Joachim E. Berendts im November 1973 erschienenem Das Jazzbuch. Von Rag bis Rock. Entwicklung, Elemente, Definition des Jazz, Musiker, Sänger, Combos, Big Bands, Electric Jazz, Jazz-Rock der siebziger Jahre. Mit einer ausführlichen Discographie vielversprechend. Er, der 1922 geborene Berendt holte wie so manche seiner Generation in den 60er/70er Jahren mit seiner Rockbegeisterung noch etwas von der von Faschismus und Weltkrieg geraubten Jugend nach, wie der österreichische Radiomoderator Walter Richard Langer, wie der tolerante und interessierte in den USA gewesene Innsbrucker Jugendzentrumsleiter Pater Sigmund Kripp und die klassik-affinen Linzer, Tante Gerti und Onkel Julius, die auch Platten von Ekseption, Renaissance und den frühen Deep Purple zulegten.

Dagegen brachten um 1974 aufgelegte Bücher wenig bis gar keinen grundsätzlichen Aufschluss über Rockmusik. Charlie Gilletts 1974 in London erstandene 1971er-Ausgabe von The Sound of the City über den Rock 'n' Roll enthält nichts über die Zeit nach 1965. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerks Rock People oder Die befragte Szene von 1974 ist bemühte positivistische Sozialforschung ohne Begeisterung für die Musik. Helmut Salzingers Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? 1972 übt sich in einer Zitat-Collage à la Walter Benjamins Passagenwerk ohne das Ergebnis eines Gesamtbild. Der 1974 im dtv-Band Epochen der Musikgeschichte erschienene Vorabdruck des bezugsreich geistessprühenden Artikels Neue Musik von Steve-Reich-Lehrer William W. Austin für Musik in Geschichte und Gegenwart handelt von Ernster Musik (E-Musik) nur bis in die 50er Jahre herauf. Und dann klammerte Theodor W. Adornos 1974 als Taschenbuch erstmals aufgelegte Philosophie der neuen Musik Rockmusik enttäuschenderweise gänzlich aus.

Nun aber nach fünfzig Jahren scheint es mir an der Zeit, die Einführung von Siegfried Schmidt-Joos genau zu lesen.


2. Die Einführung

Schmidt-Joos ab 1975 aus dem ersten Absatz ersatzlos gestrichene Definition von Rockmusik erschien nur in der ersten der fünf Auflagen von 1973, 1975, 1990, 1998 und 2008 (Siegfried Schmidt-Joos/Barry Graves/Bernie Sigg, Rock-Lexikon, = rororo 6177, Reinbek bei Hamburg 1973, 10-22; die 1975 und darauf hin unveränderte Version: http://www.rockarchiv.infopartisan.net/texte/text004.html) und lautet wie folgt:

Rock ist eine ekstatische Musik, die über einem regelmäßig durchgeschlagenen Achtelrhythmus in der zwölftaktigen Blues- oder der 32taktigen Songform häufig in alternierende Gruppen aufgespaltene Vokalsätze baut, die Bluestonalität, eine modale oder hemi-pentatonische Harmonik bevorzugt und vornehmlich zu elektrisch verstärkter Gitarrenbegleitung in extremen Stimmlagen mit gleitender Intonation vorgetragen wird. (10)

Unmittelbar anschließend heißt es: Mit dieser (oder jeder anderen möglichen) Definition wäre für das Verständnis der Rockmusik wenig gewonnen. ... Näher als der musiktheoretische führen denn auch der historische oder der soziologische Ansatz an die Wirklichkeit heran. Schmidt-Joos verknüpft in der Tat von Beginn an das Soziale und Historische mit einer Charakterisierung der Rockmusik als sogenanntes Akkulturationsprodukt (10), entstanden in den USA als Rock 'n' Roll aus modifizierten afrikanischen und europäischen Musiktraditionen. Das, so Schmidt-Joos, zeigen spätere Vermischungen bis hin zum Rock ab Mitte der 60er Jahre.

Sogleich widmet sich Schmidt-Joos der Koinzidenz von Namen und Musik des Rock 'n' Roll aus. Der Song Rock-A-Beatin Boogie des weißen Musikers Bill Haley 1955 übernahm aus der schwarzen Gettomusik Rhythm & Blues zunächst nur den harten, treibenden Rhythmus, um seine südstaatliche Kommerzfolklore attraktiver zu machen. Sehr schnell jedoch eignet sich der Rock 'n' Roll die Blues-Tonfarben und Artikulationsnuancen ... für den weißen Markt an. (10) Es geht also um die historische Situation einer sozial, territorial und ökonomisch determinierten Musik in den USA.

Schmidt-Joos erweitert seine dichte Darstellung zunächst um die technischen Voraussetzungen zunächst der Massenmedien. Damit ist die Distribution durch die Medien Schallplatte, Rundfunk, Film und später Fernsehen (10) gemeint, die in den 50er Jahren mit der Produktion von immer mehr Plattenaufnahmen und immer weniger Live-Radiosendungen einsetzt.

Dann kommt Schmidt-Joos zu einem wichtigen sozialen Aspekt, dem intergenerationalen Ausbruch der Jugendlichen aus der Wirklichkeit der Erwachsenen mittels Afrikanismen von Blues-Tonalität und Rock 'n' Roll-Rhythmus. Die Vorstellungen und Verhaltensweisen (10) der Jugend in weiten Teilen der Welt sind von Wohlstand und Automation geprägt, befeuert durch die Werbeindustrie ‒ inklusive LP-Covers, die Schmidt-Joos wohl mit meint ‒ einerseits, andererseits von übermäßiger Einsamkeit. Diese Einsamkeit führt Schmidt-Joos mit (der deutschen jungianischen Kinderpsychologin) Annemarie Sänger ((<Alles hier und weiter unten zwischen doppelten Klammern Angegebene ist fast ausnahmslos nicht in Schmidt-Joos Text enthalten und wurde von mir recherchiert. PM> etwa der Vortrag Kinderpsychotherapie in der Sicht der analytischen Psychologie C. G Jungs, gehalten auf dem Kongreß der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie, August/September 1968 in Zürich.)) auf ein mangelndes Verständnis durch die Eltern zurück. Jugendlichen geht es nur indirekt um Texte zur Einsamkeit als vielmehr um Klänge. Rock<song>texte lieferten in den sechziger Jahren dafür eine Fülle von Indizien. (11) Schmidt-Joos bringt die jugendliche Ablehnung der Erwachsenen-Wirklichkeit wie (der italienische Grafiker, Bühnenbildner und Intellektuelle) Renzo Vespignani mit einem Atavismus in Zusammenhang, der auf Erwachsene tänzerisch trampeln lässt: In einem nie zuvor gekannten Ausmaß erklärte ein Großteil der Jugend nach 1955 im Rock-Konzert, im Beatkeller oder am heimischen Plattenspieler den Wertvorstellungen ihrer Eltern eine Absage: zunächst, da im Umgang mit ekstatischen Klängen ungeübt, in Form zertrümmerten Mobiliars und in Straßenkrawallen, später durch die Herausbildung einer Art Subkultur mit eigenen Verhaltensweisen, Modeströmungen und einem eigenen Jargon <spätere 60er und frühe 70er Jahre>. (11)

Damit kommt Schmidt-Joos auf nicht weniger als sechs Formen oder Aspekte von Sprachlosigkeit zu sprechen.

1. Die ekstatischen Klänge des Beat induzieren wortlose Straßenkrawalle und Mobiliarzertrümmerungen.

2. Die durch Abwesenheit der Eltern bewirkte Einsamkeit führt zu schweigenden Jugendlichen.

3. (J)e mehr sich Lehrlinge, Schüler und Studenten auf komplizierte Produktions- und Lernprozesse konzentrieren mußten, desto größer wurde ihr Bedürfnis nach wortloser Kommunikation untereinander in Freizeiträumen außerhalb funktioneller Organisationen. (11)

4. Im demokratisierten Musikerlebnis der heißen Gegenkultur vollzieht sich eine sprachlose Opposition der Jugend, so (der deutsche Erziehungswissenschaftler) Dieter Baacke ((Beat. Die sprachlose Opposition, München: Juventa-Verlag 1968.)). Diese sprachlose Opposition richtet sich gegen die Sprache der kalten, entfremdeten, isolierten Elitekultur (11), so (der australisch-britische Underground-Schriftsteller) Richard Neville. ((Play Power. Exploring the international underground, London: Cape/New York: Random House 1970))

5. Sprachliche Verständigung wurde durch gemeinsames Haschischrauchen und Musikhören ... ersetzt, auch weil ... der intensive Rhythmus ... den motorischen Grundbedürfnissen junger Menschen (11) entgegenkommt und Musik als assoziativste Kunst der Sprache am nächsten stehe, so Schmidt-Joos mit (den deutschen Soziologen) Jürgen Friedrichs und Fritz Haag. ((Gustav Hampel/Jürgen Friedrichs/Fritz Haag, Was erschwert das Verständnis zwischen den Generationen? Auf der Suche nach neuen Wegen der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, = Schriftenreihe der Grenzakademie Sankelmark, Sankelmark: Grenzakademie Sankelmark 1971))

6. Und es werden die verbalen Kunstformen Theater und Literatur durch Licht-Shows und Comic-Bilder ersetzt, so Friedrichs und Haag. (11) An dieser Form der Sprachlosigkeit ist auch die dionysische Tradition beteiligt, die mit der Rockmusik in die abendländisch-apollinische Welt und ihr still ergriffene(s) Lauschen (12) einbricht, so (der Journalist, Musikkurator und frühe Produzent Peter Brötzmanns) Manfred Miller mit Friedrich Nietzsche. ((Miller war Schmidt-Joos spätestens seit der legendären Fernsehdiskussion von 1967 bekannt, in die Moderator Schmidt-Joos Miller und neben fünf anderen Musikredakteuren/-produzenten auch das Klaus Doldinger Quartett und Peter Brötzmann mit Ensemble einlud, siehe: Free Jazz – Pop Jazz: unverständlich oder populär? = Fernsehpodium, WDR, 12. 5. 1967 https://www.youtube.com/watch?v=lLl9-6_TxnI; und beispielsweise Manfred Miller, Die zweite Akkulturation – ein musiksoziologischer Versuch zur Entstehung des Swing, in: Jazzforschung/Jazz Research 1 (1969), 148-159.))

An diesem Punkt spricht Schmidt-Joos en passant für 1973 früh von Musikkultur. (12) Sie zeichne sich im Fall der Rockmusik dadurch aus, dass Musikindustrie und Massenmedien Rockmusik schnell zur Mode und gesellschaftlichen Norm machen. Dann kommt Schmidt-Joos ausführlich auf die Musikökonomie in Verbindung mit sozialen Institutionen zu sprechen. Damit nimmt er den Faden vom Rock 'n' Roll zum Rock erneut auf.

Die 1.000 Komponisten der American Society of Composers, Authors and Publishers bestimmen im frühen 20. Jahrhundert den populären Musikgeschmack unter anderem dadurch, dass Folklore und Blues im Radio nicht gespielt werden durften. 1940/41 streiken einige Radios, unterstützt, aber auch gedrängt von der neu gegründeten Broadcast Music Incorporated. Diese Korporation beginnt auf Radio-DJs Druck auszuüben, die Eigenproduktionen vorgeblich wertloser Musik bringen sollten. Das gelang ihr. Infolgedessen bringt auch die American Society, die 1964 bereits 18.900 Mitglieder zählte, mit trivialen Tanzweisen ein neues Realitätsverständnis in die Unterhaltungsmusik, noch dazu einen folkloristischen Swing. Nachdem mit dem neuen Medium Radio das Land gleichsam ein Jahrzehnt lang auf die Verschmelzung von Blues und Countrymusik gewartet hatte, macht erst die Durchsetzung der Interessen der Broadcast Music Incorporated sämtliche Musik, die irgendwo in den USA gespielt wurde, für die ganze Nation hörbar. Soweit die Voraussetzungen für den Initialerfolg von Bill Haleys und Elvis Presleys Rock 'n' Roll“. (13)

Zur Anbahnung der Rockmusik macht Schmidt-Joos einen musikgeographischen Sprung. Nachdem sich der US-amerikanische Rock 'n' Roll bereits 1958 erschöpfte und in den USA höchstens noch die Musik von Atlantic Records und Motown Records innovativ war, brachten die 1,28-Millionen-Hafenstadt Liverpool in den späten 50er Jahren mit ihren Gettos einen neuen Schub. Rock 'n' Roll-sensibel und proletarisch unverkrampft verschmolzen dort drei Gitarren und Schlagzeug den Rock 'n' Roll mit dem Schlager. Dieser weichte mit dem englischen Dixie-Jazz den Skiffle mit seinen Folk- und Blueselementen mittels Gitarre, Banjo, Seifenkistenbass und Waschbrett auf. Resultat: der Beat. Allein in Liverpool um 1960 wird er von mehr als 400 Bands gespielt. Mit den Beatles wird er ab 1962 global.

Schmidt-Joos beleuchtet einen bemerkenswerten Aspekt von Beat und später Rock. Der weltweite Vorsprung englischer und amerikanischer Musiker:innen ab 1960 in der Pop Music der Begriff taucht in dieser Zeit auf ‒ hat mit Klang und Interpretation, eigentlich Expression zu tun. Der Primat von Klang und Expression vor der Melodie bewirkt, dass Bedeutung und Verkäufe von Schlagermusiknoten abnehmen. Es rückt die Tonaufnahme allein in den Vordergrund. Sie betrifft das lernende Nachspielen vor dem Radioapparat und von der Schallplatte her wie auch die Studioproduktion selbst. Der Aufstieg des Musikers, der nicht mehr Noten liest, reift in den 60er Jahren zum neuen Typ des Beatmusikers. Ab Mitte der 60er Jahre treten Rockmusiker immer selbstbewusster gegen vormals autoritäre Plattenproduzenten auf. Das tun sie mit Eigenproduktionen, eigenen Klangmischungen, persönlichen wie sozialkritischen Texten und ohne Verleugnung der eigenen sozialen Herkunft. Hinzu kommen die singenden Notenfolgen des elektrischen Instruments Gitarre (16), die der oralen Tradition mehr entsprechen als die Orientierung auf Akkorde, wie Schmidt-Joos mit (dem britischen Musikjournalisten und Produzenten) Karl Dallas unterstreicht. ((Karl Dallas, Swinging London, a guide to where the action is. Illustrated by Barry Fantoni, London: Stanmore Press 1967; Karl Dallas, Singers of an Empty Day. Last sacraments for the superstars. Illustrated by Gloria Dallas, London: Kahn & Averill 1971.))

Vor dem Hintergrund von Rock 'n' Roll und Beat, Jugend versus Eltern, Sprachlosigkeit und dem neuen selbstbewussten, originellen Musikertyp unternimmt Schmidt-Joos mittels Musikerkonstellationen der Mitt- und Spät-60er-Jahre Anläufe zu einer Taxinomie der Rockmusik und ihrer Vorgeschichte. Dabei berührt er einen (1.) personalen, (2.) einen produktionstechnischen und einen (3.) Genre-Aspekt.

1. Da sind einmal die frühen großen Figuren des Rock, die explizit gemachten Vorgaben von (a) Bob Dylan (Folk von Woody Guthrie, Blues von Leadbelly, Protorock von Buddy Holly, Rock 'n' Roll von Elvis Presley), (b) den Beatles (Rock 'n' Roll von Chuck Berry, Little Richard und Carl Perkins) und (c) den Rolling Stones (der Blues von Muddy Waters, Howlin Wolf und Willie Dixon). Alle drei erreichen eine neue Identität des Rock (als) eine zum Massenerfolg hochgetrimmte Volksmusik: Mehr als je zuvor galten nun die Originalität eines Musikers und die Identifizierung mit seinem Material als Prüfsteine seiner Glaubwürdigkeit. Dazu prägt Schmidt-Joos wohl mit Blick auf Dylan und die New Yorker Greenwich-Szene die Begriffe der City-Folklore und des Rock-Troubadour(s) mit der Elektrogitarre. (16)

2. Da sind weiters die paradigmatischen Protagonisten des Rock, die den Tonträger ernst nehmen: Um über die Welt, in der wir leben, eine Aussage zu treffen (Bob Dylan), sprengten die Rockmusiker die Vier-Minuten-Grenze der Singleplatte und machten die Langspielplatte zum bevorzugten Kommunikationsmedium der jungen Generation. Hier zieht Schmidt-Joos vier über das Single-Format hinausweisende Langdimensionen heran, nämlich (a) Dylans Gedankenlyrik im Langgedicht, (b) die auf Singles ebenso kaum Entfaltung findenden Klangcollagen der Beatles, (c) die entwickelnde Improvisation von Cream und (d) die komplexen Partituren der Mothers of Invention. So deutet Schmidt-Joos auf das Aufgreifen der Rockmusik durch die spoken Langdichtung der Beatniks, die zeitgenössische elektronische E-Musik, das professionelle Niveau der <etwa avantgardistisch improvisierenden> Jazz-Elite (16) und die notierte E-Musik. Dann führt Schmidt-Joos ein beeindruckendes Zitatkonzentrat aus Leonard Bernsteins hinreißender CBS-Fernsehsendung Inside Pop ‒ The Rock Revolution vom 25. April 1967 an: https://www.youtube.com/watch?v=afU76JJcquI, Minute 20:33 bis 23:15. Und er verknüpft die (Selbst-)Identifizierung der Musiker und das künstlerische Ernstnehmen des Tonträgers LP in einer eindrücklichen Bemerkung zur Rolle des Plattenstudios und den 700 Stunden Studioarbeit für Sgt. Pepper 1967. Der Beatles-Produzent und klassisch ausgebildete Pianist/Oboist George Martin erklärte die Epoche der reinen Sounds für eröffnet: Früher haben wir uns bemüht, Klänge so realistisch wie möglich zu reproduzieren; jetzt versuchen wir abstrakte Klangbilder zu schaffen. Hier nützt Schmidt-Joos eine über 5000 Wörter lange Rezension von Sgt. Pepper in Time (https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,837319-1,00.html) und schreibt über die Sgt. Pepper-Klangcollagen: Leonard Bernstein hielt sie für amüsanter als alles, was die Komponisten der E-Musik-Avantgarde heute schreiben; Neutöner Pierre Boulez fand sie cleverer als die Opern von Henze. In einem Seminar über die Musik der BEATLES an der University of California in Los Angeles erklärte der Musikwissenschaftler Robert Tusler, das Londoner Quartett habe viele elektronische Konzepte von Karlheinz Stockhausens Kölner Schule übernommen und leiste einen gewaltigen Beitrag zur elektronischen Musik. Fast schien es, als sei die Rockmusik nur deshalb für die Feuilletons und Seminare diskutabel geworden, weil sie durch äußerliche Arabesken und Ornamente auch in die Nähe der europäischen Kunstmusik gerückt worden war. (17)

3. Und da ist schließlich Schmidt-Joos Ausfaltung einzelner musikalischer Bestandteile aus der Mischung Rock 'n' Roll/Folk/Blues und die Einfaltung in diese hinein. Diese Faltung führte in den späten 60er Jahren über hoch differenzierte Personal- und Gruppenstile (10) zu zahlreich aufpoppenden Innovationen in einer Reihe von Genres, zuerst aufgezählt auf Seite 17: Blues Rock, Folk Rock, Psychedelic Rock, Raga Rock, Baroque Rock (letztere beide mehr oder weniger in den Anfängen stecken bleibend), Country Rock, Jazz Rock. Es spricht nicht gegen Schmidt-Joos, dass in der Genealogie-Tafel auf Seite 18 auch Electronic Rock, Hard Rock, Theatrical Rock und Soft Rock aufscheinen, dafür aber Blues Rock, Folk Rock und Country Rock fehlen. Um sie nicht auszulassen, wendet die ROCK-LEXIKON-DISKOTHEK von 60 teils vergriffenen und durch Schmidt-Joos Veranlassung wieder aufgelegten Platten zwischen den Seiten 174 und 175 dann folgende Klassifizierung an: Rock 'n' Roll, Soul, Blues, White Blues, Some British Highlights, Folk Rock, West Coast Sound, Soft Rock, Heavy Rock, Jazz Rock, Avantgarde, All Time Greats und All Star Meeting.

All das ‒ die originelle Identität neuer Volksmusik, die Hauptprotagonisten der längeren Musikform, die Gattungen der Rockmusik ‒, weiters die Klangaccessoires eines Hendrix (der als wichtigster Artist der Rockmusik ganz zurecht den Buchdeckel ziert, wenn auch Gesicht und Hand so ausgebleicht sind, dass die Abbildung dafür mitverantwortlich ist, dass Hendrix über viele Jahre auch nicht als Afroamerikaner wahrgenommen werden konnte), die Raumeffekte Pink Floyds, die grellen Figurationen der Cream ‒, sie alle ändern nichts daran, dass das Rock-Idiom ... in der Arbeit der Rhythmusgruppen (17f.) ruht, so Schmidt-Joos zutreffend. Zur Erläuterung: Der Begriff der Rhythmusgruppe kommt aus dem Jazz, dem sich Schmidt-Joos journalistisch vor der Rockmusik widmete, und meint die Begleitung der solistisch auftretenden Bläser durch Schlagzeug, Bass, Klavier und Gitarre. Diese Arbeit auch punkto Intonation und Phrasierung bleibt Grundlage wie Maßstab für die aus der Definition Rock ... (als) ekstatische Musik (10) abgeleiteten Ekstasetechniken von Blues, Soul, Gospel und Countryfolklore mit ihren in Noten nicht faßbare(n) Unwägbarkeiten. (18)

Bislang hat Schmidt-Joos noch nicht von der Geschichte der Rockmusik selber ab circa 1966 gesprochen, sondern nur von der Grundstruktur der Rockmusik und ihrer Vorgeschichte. Das mag an der 1973 erst kurzen widerspiegelbaren Zeit liegen. Auch gehen die Überlegungen der Einführung im Wesentlichen und zu einem kleinen Teil wortwörtlich auf einen Überblicksartikel zurück, den Schmidt-Joos 1970 in seiner Zeit als Redakteur für Der Spiegel veröffentlichte ‒ https://www.spiegel.de/politik/in-den-luecken-a-4c30b9a1-0002-0001-0000-000044931178 ‒ und an den er später erinnerte. (Siegfried Schmidt-Joos, Credits – I Am What I Am, in: My Back Pages - Idole und Freaks, Tod und Legende in der Popmusik. Mit einem Beitrag über Michael Jackson von Kathrin Brigl, Berlin: Lukas Verlag 2004, 573-576, 574)

Nannte Schmidt-Joos die performativen Orte des Wohn- oder Kinderzimmers mit Plattenspieler, den Beatkeller und den Rockkonzertsaal, so kommt er jetzt auf das Rockfestival, das die Rockmusik politisch und ökonomisch veränderte, und auf die Konzerttournee, die für alle Acts obligat wurde und die Musiker an den Rand der Selbstzerstörung führte. Monterey Pop 1967 und besonders Woodstock 1969 bringen eine positive Massenkultur, über die noch Janis Joplin jubelt, aber auch das, was mit der british invasion 1964 in Mode, Getränken und Zeitschriften einsetzt: Bewusstseinsveränderung und Kapitalismus, wie Schmidt-Joos mit (dem britischen Musikjournalisten) Mike Evans sagt. ((Mike Evans, Beat in Liverpool, übers. v. Juergen Seuss, Gerold Dommermuth u. Hans Maier, Frankfurt am Main/Wien/Zürich: Büchergilde Gutenberg 1966.)) Schmidt-Joos im Weiteren lässt große Veranstalter und Label-Betreiber zu Wort kommen wie Lou Adler, Clive Davis und David Geffen dieser heute acht Mrd. Dollar schwer , und weist aber auch auf die free concerts von Grateful Dead, Julie Driscoll und Edgar Broughton, die Frank Zappa (wie die Hippie-Kultur) auf der LP We Are Only in It for the Money 1968 verhöhnte.

Schmidt-Joos bringt eine Musikertypologie, die Figur des Rock-Troubadours um des Rock-Superstars, und stellt der Rockmusik 1973 die ernüchternde Diagnose: künstlerische Stagnation, abnehmendes Qualitätsbewusstsein des Publikums, Schweigen oder Tod von (auch politisch artikulierten!) Künstlern wie Bob Dylan, John Lennon, Hendrix, Grace Slick, Janis Joplin und Jim Morrison, Rückzug in ein Sich-Wegträumen vom verwüsteten Planeten, der Rückbesinnung auf die alte Folksong-Tugend der Beschränkung und auf melancholische Lieder voller Nostalgie mit unverstärkte(r), akustische(r) Gitarre oder am Piano. (22) Wir erinnern uns, 1973 ist das Jahr des Ölschocks und des ersten Berichts des Club of Rome. Generell, so Schmidt-Joos, herrsche 1973 Stillstand wie in der Zeit um 1960 zwischen der Erschöpfung des Rock 'n' Roll und dem Aufstieg der Beatles. Erst drei in der Einführung der erweiterten Auflage von 1975 angehängte Absätze bringen neue Tendenzen im Anschluss an den Soul zur Sprache wie der elektronische Stevie Wonder. Barry Graves zweite Einführung ab den Auflagen von 1990 beleuchtet dann neuere Tendenzen.


3. Material, Progressiv, Ausdruck und Theodor W. Adorno

Schmidt-Joos liegt für 1973 richtig und für spätere Zeiten noch mehr, wenn er sagt: (Es) waren Rock 'n' Roll und Rock, denen die Musikindustrie später das irreführende Adjektiv progressiv beilegte. (13) Und doch stimmt das nur zum Teil. Der Aufbruch aus dem Popkommerz, der mit Dylan, den Beach Boys, Beatles, Mothers of Invention und The Who Mitte der 60er Jahre einsetzte, war auf eine offene und radikale musikalische Zukunft im Namen des Fortschritts orientiert. Wenn um 1970 wesentliche Teile der Rockmusik als progressiv bezeichnet wurden, dann weil der Rock mit Klängen, Inhalten, Bewusstseinszuständen, Musikgattungen experimentierte und wirkliche Fortschritt in der Popmusik machte lange bevor die Rockgeschichtsschreibung ab den 80er Jahren mit dem Etikett ‚progressive rock oft negativ konnotierend eine Einschränkung des Gemeinten auf ungenießbare schräge Rhythmik und vertrackte Kompositorik sehen wollte. Demgegenüber gilt: Das Progressive der Rockmusik bestand au fond darin, dass neben und mit dem Aufgreifen des Alten wie etwa des Symphonischem im Baroque Rock oder des Revivals der romantischen Starfigur wie Liszt bei Keith Emerson und Paganini bei John McLaughlin und Jerry Goodman sich avancierte Spieltechniken, Formen und Stile von Jazz und contemporary classic music durchsetzten, wie das heute heißt. Progressiver Rock ging einst so weit, dass E-Musik-Komponisten wie der Minimal-Music-Vertreter Terry Riley mit A Rainbow in Curved Air fruchbare Zeugnisse ablegten. Dabei bildet der Rückgriff der Rockmusik auf klassische, moderne und zeitgenössische E-Musik mit gleichzeitigem Beharren auf dem eigentlich Progressiven rhythmischer Rock-Ekstatik eine Dialektik, die derjenigen nicht unähnlich ist, die Theodor W. Adorno an der E-Musik des frühen 20. Jahrhunderts beobachtete. Adorno hat bekanntlich die beiden Hauptteile seiner Philosophie der neuen Musik von 1949 (Ullstein Buch 2866, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1974) mit Schönberg und der Fortschritt (33-120) und Strawinski und die Restauration (121-189) überschrieben und trat bürgerlich und historisch-materialistisch für den Fortschritt anhand einer Konfrontation von Schönberg und Strawinski ein. Wenn Schmidt-Joos im Blick auf die Artikulation subjektiver Erfahrung des Musikers, wie sie ab Mitte der 60er Jahre vom Musiker und Publikum beansprucht und eingefordert wurde, das Material des Musikers als Kriterium erkennt (m)ehr als je zuvor galten nun die Originalität eines Musikers und die Identifizierung mit seinem Material als Prüfsteine seiner Glaubwürdigkeit (Schmidt-Joos, 16) , dann lohnt es sich, dem Begriff des Materials in Adornos Philosophie der neuen Musik nachzugehen.

Für Adorno ist Material der Musik weder geräuschphysikalisch noch klangpsychologisch relevant. Es ist musikalisches Mittel, ein Inbegriff ... der Klänge, es ist das kompositorische Material. (Adorno, 35) Dieses Material ist geschichtlich veränderbar und formbar. In den Epochen der Geschichte auch der Musik ergeben sich verschiedene materiale Spezifika, Verengungen und Erweiterungen. Adorno spitzt es für die Kunst zu. Je weniger das Material historisch identifizierbar erscheint, ja wie sehr es uns als unveränderliche Natur vorkommt, umso notwendiger ist es historisch und gesellschaftlich bestimmt. Das betrifft nicht nur temperierte Stimmung, sondern Akkorde, sogar Dreiklänge. Dementsprechend sind bestimmte musikalische Bewegungsgesetze des Materials nicht zu allen Zeiten möglich. Ebensowenig gibt es eine Konstanz des musikalischen Subjekts. Mit Subjekt meint Adorno Komponist:innen, aber auch Hörer:innen, die mit dem historischen Subjekt, mit der sich verändernden Gesellschaft verstrebt sind. Heute (das sind für Adorno die 1940er Jahre) vermag das entwickelte Gehör die kompliziertesten Obertonverhältnisse harmonisch ebenso präzis aufzufassen ... wie die einfachen, und dabei keinerlei Drang zur Auflösung der vorgeblichen Dissonanzen verspür(en). Damit wäre „‚Material ... sedimentierter <das heißt, wie Natur erscheinender> Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ... <es wäre eine> ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität. Dadurch wäre die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft. (36) Was er tut, ... erfüllt sich in der Vollstreckung dessen, was seine Musik objektiv von ihm verlangt. Aber zu solchem Gehorsam bedarf der Komponist allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität. So ... ist die Bewegung des musikalischen Materials nicht zuletzt gerichtet gegen das geschlossene Werk (39) für uns: gegen die US-amerikanische Bundeshymne wie bei Hendrix, gegen den Song in der Destruktion des White Album der Beatles oder des Commercial Album der Residents, mit der aktionistisch aufbrechenden Theatralisierung der Rockperformer wie bei den Mothers of Invention, Alice Cooper und beim Glam Rock, mit der historisch einmaligen Verschränkung vieler musikalischer Gattungen in und außerhalb der Popmusik wie etwa elektronischer E-Musik, Free Jazz und klassisch-romantischer Musik in einem oder zwischen mehreren Stücken eines Artists oder einer Band.

Bei Arnold Schönberg, dessen Musik Adorno immer im Auge und Ohr hat, kommt etwas hinzu. Schönbergs Zwölftonmusik setzt das Tonmaterial, ehe es durch die <Ton->Reihen strukturiert wird, zu einem amorphen ... Substrat herab, dem dann das ... kompositorische Subjekt sein System von Regeln und Gesetzmäßigkeiten auferlegt. Nur in Komposition oder Konstruktion mittels dieses Systems vermag das historische Subjekt mit dem historischen Element des Materials übereinzukommen. Anders gesagt, nur in der zahlenmäßigen Determination durch die Reihe stimmen der im Material der chromatischen Skala historisch hervortretende Anspruch auf stete Permutation ... und der kompositorische Wille zur totalen musikalischen Naturbeherrschung als Durchorganisierung des Materials zusammen. (106) Indem jedoch die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Zwölftonmusik am Material sich als eine entfremdete Macht dem Subjekt entgegensetzen, wird das Subjekt <dazu bewegt>, von seinem Material abermals sich loszusagen, und diese Lossage macht die innerste Tendenz von Schönbergs Spätstil aus, nämlich aus der Verstrickung im Naturstoff, auch als Naturbeherrschung (107) der Zwölftontechnik auszubrechen. So gibt das entklammerte, fragmentierte Material dem Subjekt seine Selbstbestimmung zurück und tut das bei Schönberg in Bearbeitungen, Nebenwerken für uns: in zu Geräuschen hin verzerrten und zerfetzten Klängen der elektrischen Gitarre des Star Spangled Banner bei Hendrix, in den Rhythmus-Kaskaden der Schlagzeugsoli von Ginger Baker auf Wheels of Fire, mit der Vervielfältigung, Erfindung und Erprobung neuer Instrumente wie Mellotron und Synthesizer.

Zunächst denken wir bei Material in der Rockmusik an Tonträger//records wie Schallplatten oder Audiocassetten oder CDs, an Equipment/gear, an spezielle Musikinstrumente in ihrer Klangspezifik und ihrer visuell-materieller Form und Inszenierung, nicht zuletzt an LP-Covers, Posters und Musikzeitschriften, begehrenswertes Sammel- wie referenziertes Material. Diese vierfache Materialität ist für das Publikum genau so wie für Musiker:innen/Komponist:innen greifbar. Was Adorno aber meint, ist das rein musikalisch kompositorische Material, das von der Komponist:in/Musiker:in verarbeitet und bis in die tonale und nun auch technisch-akustische Grundstruktur hinein verändert werden kann. Findet das in einem adorno-relevanten Ausmaß statt? Vielleicht nicht, wenn man nur an die traditionell notierbare Tonalität in ihren avancierten kompositorisch ausgeloteten Klangräumen denkt. Aber wie ist es, wenn man das absichtlich falsche Spielen der frühen Grateful Dead in Betracht zieht? wenn man Hendrix klangimmanente künstlerische Forschung an der elektrischen Gitarre mit ihren Echos, Loops, Verzerrungen, Feedbacks genauer abwägt? wenn man die von Schmidt-Joos herangezogenen stockhausenschen Raumeffekte bei Pink Floyd in Rechnung stellt? wenn man abrufbare Intonationen durch Samples wie bei Pink Floyd, beim Mellotron und beim Synthesizer hereinnimmt? Zweifellos liegt die Technologie der Zeit nach 1945 industriell und künstlerisch (wie mit dem Pariser Studio d'Essai, dem Kölner Studio für elektronische Musik, dem Mailänder Studio di Fonologia Musicale) als historisch formiertes und gesellschaftlich strukturiertes Material den Rockmusikern bereits vor, wird kaum von ihnen designt. Doch im Pochen auf künstlerische Selbständigkeit und sozialen Protest gelingt es ihnen, das Material der Technologie deren Klänge kompositorisch und performativ für eine breite Gesellschaft so auszuarbeiten, dass die Re-Formation des historisch einzigartigen Subjekts wir in greifbare Nähe zu rücken scheint. Und das in einer Weise, die sich gegen das Marketing-Musikdesign der Kulturindustrie als counter culture behauptet. Wie Schmidt-Joos denn auch so plastisch zeigt, spiegelt sich die Originalität eines Musikers und die Identifizierung mit seinem Material (16) nicht in den verfügbaren, manipulierbaren, ökonomischen Produkten wider, wie es Konzerte und Platten immer auch sind. Worin?

Noch ein Anlauf mit Adorno. Ziehen wir den Begriff des Materials aus seiner Ästhetik-Vorlesung vom 4. 12. 1958 heran. (Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), hg. v. Eberhard Ortland, = stw 2207, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, 89-105) Diese Vorlesung hat Schmidt-Joos gehört oder sie wurde ihm durch Kommiliton:innen berichtet, studierte doch Schmidt-Joos dem Internet zufolge von 1957 bis 1959 an der Universität Frankfurt Kulturwissenschaften bei Adorno, Max Horkheimer und Carlo Schmid. In jener Vorlesung im Dezember 1958 arbeitete Adorno heraus, dass die künstlerische Konzentration der expressionistischen, Jugendstil- und teilweise auch surrealistischen Malerei, Literatur und Musik aus Protest gegen Formkonventionen und im Willen zum rohen, reinen Akt der Expression im Resultat in Konstruktion umschlägt. (Wer würde bestreiten, dass Rockmusik eine protesthafte Steigerung von Popmusik ist und dadurch an jenen modernen Künsten beteiligt ist?) Konstruktion, so Adorno, müsse dabei so verstanden werden, dass es sich um eine Herrschaft handelt, die ausgeübt wird über das Material, um dieses Material ganz und gar zu artikulieren ... aber nun nicht ... eine Art Herrschaft, die gewissermaßen fremd, durch Rückgriff </> auf Bindungen, durch Stilwillen ... dem Material angetan wird, sondern um eine Artikulation, die aus der Sache selbst ‒ wenn Sie wollen, sogar aus der Logik des Materials selber ‒ heraus wächst. Diese Konstruktion ist gerade deshalb notwendig, weil die Formen nicht mehr naiv unmittelbar vorgegeben ... sind. (102f.) Adorno erläutert den Zusammenhang von Expression, Material und Konstruktion weiter so: Konstruktion ... bedeutet, daß der Künstler oder das Subjekt die Organisation des Materials konstruierend vollbringen muß. Auf der einen Seite hat der Expressionismus das Material von allen bloß konventionellen Bindungen gewissermaßen gereinigt. Das Material ist jetzt unmittelbar zur Verfügung des Subjekts geworden. (103) Zum anderen hat der Expressionismus die Voraussetzungen für die Konstruktion dadurch gegeben, daß er eben jene Emanzipation des Subjekts von vorgegebenen Formen vollzogen hat, die es ihm nun erlaubt, souverän, frei mit dem Material zu schalten. (104) An der hier bezeichneten Logik des expressiv artikulierten Materials ist zu erkennen, dass es Adorno um moderne Kunst insgesamt geht, also auch kaum mehr als angedeutet um die Konstruktion des Konstruktivismus der Malerei von Kandinski, Malewitsch bis Mondrian, der Literatur von Joyce und vor allem die Musik der Wiener Schule der Konstruktion aus Zwölftonreihen, die aus der historischen Bestimmung des Materials von Spätromantik und Expressionismus freier Atonalität terminiert. Unmissverständlich geht es um die gesellschaftliche Kritik eines konkret gewordenen historischen Materialismus, wie sie die Künste und die Rockmusik ausdrücken und von Schmidt-Joos und Adorno jeweils verschieden begriffen werden.


4. Rockmusiktheorie

Auch wenn Schmidt-Joos seine Definition sogleich zurückgenommen hat ‒ (m)it dieser (oder jeder anderen möglichen) Definition wäre für das Verständnis der Rockmusik wenig gewonnen. Sie ist zu abstrakt und kann zudem durch allzu viele Ausnahmen von der Regel leicht außer Kraft gesetzt werden. Näher als der musiktheoretische führen denn auch der historische oder der soziologische Ansatz an die Wirklichkeit heran , so bietet sie doch einen ersten Anhaltspunkt. Hier noch einmal: Rock ist eine ekstatische Musik, die über einem regelmäßig durchgeschlagenen Achtelrhythmus in der zwölftaktigen Blues- oder der 32taktigen Songform häufig in alternierende Gruppen aufgespaltene Vokalsätze baut, die Bluestonalität, eine modale oder hemi-pentatonische Harmonik bevorzugt und vornehmlich zu elektrisch verstärkter Gitarrenbegleitung in extremen Stimmlagen mit gleitender Intonation vorgetragen wird. (10)

Schmidt-Joos identifiziert seine Definition als eine musiktheoretische. Fasst man nun unter ›Musiktheorie‹ diejenigen Lehrfächer zusammen, die speziell auf eine analytische Beschäftigung mit Musik vorbereiten, so vor allem Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre (→Form), zuweilen auch Melodie- und Rhythmuslehre oder anders benannte Fächer mit satzgeschichtlicher bzw. stilkundlicher Ausrichtung (Sachs, Musiktheorie, in: MGG Online, 2016), dann fällt auf, dass Schmidt-Joos dieser theoretischen Tradition genüge tut. Nur rangiert bei ihm der Rhythmus vor Harmonie und Form, und mit der Instrumentation speziell der Gitarre und der Bewirkung der Extase trittt die Musikpraxis gleichberechtigt zur Musiktheorie dazu.

Ohne die Richtigkeit aller Punkte von Schmidt-Joos Charakterisierung der Rockmusik zu diskutieren, sei das unumgänglich Wichtige unterstrichen:

1. Mit regelmäßigem Rhythmus ist in aller Regel gemeint der 8/8-Takt mit Schlägen auf die Basstrommel für das erste, zweite, fünfte und sechste Achtel sowie auf die Marschtrommel für das dritte und siebte Achtel: bum bum tschak, bum bum tschak. ‒ Man könnte, was Schmidt-Joos nicht tut, geradezu von einem Rhythmusparadigma sprechen, das von den 60er Jahren bis in die 80er Jahre weit über Rock hinaus in leichten Jazz und Popmusik reichte und das Pierre Henry und Michel Colombier schon 1968 als Psyché Rock durch das darübergelegte Synthesizer-Geräusch mit einem starken Rubato parodierten. Es sei aber auch an die irregulären Metren seit All You Need Is Love und die Taktwechsel seit den Mothers of Invention erinnert, mit denen der Rock von Anbeginn die Popmusik transzendierte.

2. Die Songform steht im Zentrum der Rockmusik. ‒ Es verweisen die LP-Zusammenstellungen von teils stark belasteten Songs und darüber hinaus die Verschränkungen von Songs auf einer LP, teils als Konzeptalbum, sowie von Formen wie Rondo/Suite, Ostinato-Lauf und freie Improvisation auf Erweiterungen und Umformungen des Formenrepertoires, mit denen die Rockmusik die Popmusik transzendiert, ähnlich wie früher der Jazz.

3. Es gibt Vokalsätze in alternierenden Gruppen. ‒ Die Abwechslung von Strophe und Refrain wird aus dem von Blues, Folk und Beat Schema übernommen ‒ Beach Boys, Beatles, Folk Rock ‒ und in der Rockmusik bis in die frühen 70er Jahre betrieben.

4. Die zunächst einfache Tonalität ist in der Bluestonalität und der modal/hemi-pentatonischen Harmonik verwurzelt. Komplexitätssteigerung, Verfremdung und Überschreitung von Dur- und Moll-Tonalität werden durch harmony singing, atonalere Instrumental- und elektronische Geräuschmöglichkeiten bewerkstelligt.

5. Gesang wird von elektrischen Gitarren in extremen Stimmlagen begleitet. Damit meint Schidt-Joos die vom Rock oft übernommenen drei Gitarren der Beat-Combo, das sind die sechssaitige Gitarre akkordisch als Rhythmusgitarre und melodisch als Sologitarre sowie die viersaitige Bassgitarre. Da extrem tiefe Bässe erst in den Soundsystems des Hip Hop aufkommen (Straßenkrawalle!), kann Schmidt-Joos nur die Höhen der Gitarrensolos gemeint haben sowie die elektronischen Klangerweiterungen und Instrumentendestruktionen etwa von Hendrix, Pete Townsend und Keith Moon. Insbesondere spricht Schmidt-Joos die gleitende Intonation an, das Hinaufziehen einer Saite während des Erklingens des Tons und das Glissandieren auf einer oder mehreren Saiten über mehrere Bünde hinweg.

Diese fünf Bestimmungen aus Schmidt-Joos Definition lassen sich um vier zusätzliche Bestimmungen erweitern. Erst die von ihnen gemeinten Klangaspekte entfalten die Wirkung zur Ekstase und Entrückung voll.

6. Ekstase als wesentlich beteiligt hereinzunehmen, wäre ohne Erfahrung großer Lautstärke unmöglich. Was zuerst in der Popmusik mit dem Erreichen eines immer größeren Publikums in Konzerten begann, wurde in der Rockmusik Zweck eigener Hörintensität, oft genug jenseits der Schmerzgrenze. The Who sollen das lauteste Konzert der Rockgeschichte gegeben haben. Dass ihr Gitarrist heute schwer an den Folgen leidet, ist bekannt. Schnell aber wurden auch die klangspezifischen Möglichkeiten laut aufgedrehter Instrumente ausgelotet, früh bei Hendrix, später typisch bei Glenn Branca, Industrial Rock, Sonic Youth und Techno, der letzten partielle der Rockmusik verpflichteten Musikrichtung.

7. Klangkörper: Ob Band oder Gruppe (Alright friends, you have seen the heavy groups. Now you will see morning maniac music. Believe me. It’s a new dawn! Grace Slick von Jefferson Airplane am Woodstock Festival, Volunteers ansagend) anders als bei Pop-, Jazz- oder selbst Klassik-Ensembles sind konstante Mitglieder wie bei den Beatles, Rolling Stones oder Lead Zeppelin immer ein besonderes Asset. Das gilt noch mehr für das Power Trio aus Gitarre, Bass und Schlagzeug von Cream, Hendrix, Police bis Nirvana. Das hat mit der Identifikation durch das Publikum zu tun, mit der durch die Mitmusiker möglichst unbehinderten Strahlkraft des Stars und nicht zuletzt mit der Eingespieltheit und Togetherness dieses in der Rockmusik kleinstmöglichen Ensembles. Permanente Wechsel von Begleitmitgliedern/-bands verträgt der Rock nicht. David Bowie ist Ausnahme auch nur, weil seine Musik in den Pop und seine Produktionsweise hineinreicht.

8. Am Klangkörper hängt der Sound. So wie die Kenner:in den Sound der Wiener, Berliner und New Yorker Philharmoniker unterscheidet, so unterschieden und unterscheiden sich Rockbands durch gezieltes Sounddesign. Das hat wohl mit Aufnahmetechnik und Abmischung zu tun, betrifft die Wahl von Gitarren, Gitarrenverzerrern und anderen Instrumenten und umfasst die große Komplexität von Sing- und Spielweisen. Es beinahe so, als ob die Stimmen von Ion Anderson und Ian Anderson spezielle Bandsounds verlangen. Die Bedeutung von Sound zeigt sich nicht zuletzt an zwei Rockmusikzeitschriften, die englische Sounds und die deutsche Sounds.

9. Keine Musik hat je in der Musikgeschichte eine derart weit ausgreifende Vielfalt von Genres erreicht wie die Rockmusik ‒ Schmidt-Joos mehrfache Klassifikationsarbeit, die für die Versammlung der Lexikoneinträge so wichtig ist, wie es Francis Bacons Wissenschaftsklassifikation, für die Auswahl der Stichwörter der Encyclopédie von Diderot und dAlembert war ‒ sprechen Bände. Dabei kamen nach 1973 noch Reggae, Punk Rock, Industrial Rock, Post Rock etc. dazu, um mit dem Genre-Imperium des Heavy Metal gar nicht erst anzufangen. Es fällt auf, dass mehrere Genres nicht nur nicht trennfein auf verschiedene Bands/Sänger:innen verteilbar sind, sondern innerhalb einer Band, ja innerhalb eines Musikstücks verschränkt werden können, etwa auf In the Court of Crimson King. Ja mehr noch, es kann eine rock-externe Musikrichtung wie ein Gast im Rockfeld auftauchen. Wie wäre sonst zu verstehen, dass das Folkensemble Incredible String Band in Woodstock 1969 auftrat (unglücklich, aber eben doch)? wie sonst, dass Romantic Warriors von Return to Forever sowohl zur Geschichte des Jazz wie auch des Rock, aber auch in parodistischen Elementen zum Progressive Rock und (fiktives Genre!) Progressive Jazz gehört, wobei sich ein eigenes Genre des Fusion Jazz nicht restlos zur Gänze herausbildete?


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