peter.mahr

<2022.5> L’art philosophique. Übersetzung von und Kommentar zu Richard Wollheims Vorrede zu Art and its Objects. An Introduction to Aesthetics, New York-NY/Evanston-IL: Harper & Row–A Torchbook Library Edition 1971, vii. 12946 Zeichen. online 25. 11. 2022 .html


Vorreden in der Philosophie und der Ästhetik

Es gibt eine wichtige philosophische Tradition, und das ist die Tradition der philosophischen Vorreden. Vorreden sind mehr als Vorworte. Ihre Bedeutung nahm Statur an, als eine freie gedankliche Gestaltung in philosophische Abhandlungen größeren Umfangs Einzug hielt. Diese Gestaltung nahm mit dem grandiosen Aufstieg des Essays, wie er in der französischen Enzyklopädie inhaltliche Disziplin und Orientierung erhielt, eben die unverwechselbare Form der philosophischen Vorrede an. Nicht ohne Grund ist es die Zeit des späten 18. Jahrhunderts, als die Ouvertüre neben dem Schauspiel-Prolog zum beinah selbständigen Manifest der Oper wurde. In der Ouvertüre wurden die Motive dessen, was die eben niedergelassenen Besucher im Opernhaus während der kommenden Stunden erwartete, ohne Bild und Handlung rein musikalisch gebündelt serviert. Ähnlich programmatisch die Vorrede. Die beiden Vorreden zur Kritik der reinen Vernunft gehen in einer Weise ins Grundsätzliche, zu der der nachfolgende Traktat nicht imstande und befugt wäre. Direkt und indirekt verleiht die Vorrede die Gegenwart des „angeredeten“ Buchs den Index des Sendungsbewusstseins der Autor/in. Die Vorrede nimmt einen hohen Ton an, einen Ausdruck des Pathos, und überträgt die Textualität einer Schrift für wenige in ein Auditorium von vielen. Hegels Vorreden zur Phänomenologie des Geistes und zu den Grundlinien der Rechtsphilosophie bezeugen das. Auch in der relativ knappen, notwendigerweise subjektiver gehaltenen Vorrede von Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung ist ein zurückgenommenes Pathos konstitutiv. Kaum mehr möglich ist die Vorrede in den Spezialdisziplinen der Philosophie. Mehr und mehr in zugehörige szientifische Diskurse eingebettet, will die programmatische Ansage ins Umfassende nicht mehr so recht passen. Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, die dem Philosophen und Komparatisten die Habilitation in seiner Germanistenkommission auch gekostet haben mag, war weit mehr als die erwartete methodologische Vorbemerkung, sie war Ästhetik und Metaphysik pur. Kittlers Aufschreibesysteme 1800 1900 beginnt demonstrativ nur mehr mit einer halben Seite sperriger Bibliographiehinweisen. Doch es gibt im Unterschied zur transzendenten Vorrede deutscher Tradition auch die immanente Vorrede. Religiös im Ton, nahezu poetisch im Duktus – hier eine Vorrede, wie sie in der Ästhetik ihresgleichen sucht.

Text, übersetzt und englisch

„‚Nichts ist positiv an der Kunst, außer dass sie ein Wort ist‘, schrieb der Maler de Kooning. Wir könnten das etwas genauer in das Folgende umschreiben: Nichts ist positiv an der Kunst, außer dass sie ein Begriff ist.

((‚Nothing is positive about art except that is is a word,‘ the painter de Kooning has written. We could rewrite this more precisely as: Nothing is positive about art except that it is a concept.))

Wir schauen auf Gemälde, wir lesen Gedichte, wir hören Bach oder Strawinsky – und sind uns unweigerlich bewusst, dass das Objekt unserer Aufmerksamkeit ein Kunstwerk ist: ein Werk im Sinn eines Produkts menschlicher Arbeit und auch etwas, das unter den Begriff von Kunst fällt. Wir schreiben einen Roman, wir komponieren ein Stück Musik, wir töpfern einen Topf. Und erneut gibt es am Ende nicht nur ein Stück der Arbeit, sondern diese Arbeit – dieses Mal unsere Arbeit – ist vom Begriff der Kunst geregelt worden.

((We look at paintings, we read poetry, we listen to Bach or Stravinsky: and we are aware, inevitably, that the object of our attention is a work of art. A work, in the sense of a product of human labour and also something that falls under the concept of art. We write a novel, we compose a piece of music, we make a pot. And once again, not merely is there, at the end, a piece of work, but the work – our work, this time – has been regulated by the concept of art.))

So scheinen wir als Publikum und als Macher der Kunst zugleich mit Artefakten und einem Begriff beschäftigt zu sein. Kunst und ihre Objekte kommen unauflöslich verbunden daher. Und wenn wir mitunter das Gefühl haben, dass der Begriff das Objekt nur verdunkelt und genauso gut fallen gelassen werden könnte, oder wenn andererseits der Begriff alles ist, was wir brauchen, und die Zeit des Objekts vorbei ist, dann gelangen wir in keinem der beiden Fälle über eine Geste weit hinaus. Die geringste aller Veränderungen ist, wenn wir anstelle von Kunst Antikunst einsetzen. Dann scheinen wir uns tatsächlich mit Wörtern und nicht mit Begriffen zu beschäftigen.

((So, as the audience of art or as the makers of it, we seem to be engaged simultaneously with artefacts and with a concept. Art, and its objects, come indissolubly linked. And if we sometimes feel that the concept only obscures the object and could as well be dropped: or alternatively, that the concept is all we need and that the day of the object is over; in neither case do we progress far beyond a gesture. The least of all changes is when we substitute for art anti-art. Then indeed we seem to be dealing with words not concepts.))

Ästhetik mag dann als Versuch gedacht werden, das Kuvert zu verstehen, in dem die Kunstwerke ausnahmslos ankommen. Sie verbindet beide mit unserem Verständnis der Kunst und unserem Verständnis der Gesellschaft und wird für beide lebenswichtig sein. Art and its Objects ist in diesem Glauben geschrieben worden.

((Aesthetics then may be thought of as the attempt to understand this envelope in which works of art invariably arrive. It connects both with our understanding of art and with our understanding of society and may well be vital to both. Art and its objects has been written in this belief.))“

Enveloping / Paraphrase eines Texts

Wollheims „Preface“ 1968 – ab der zweiten Auflage 1980 fallen gelassen wie der Zusatztitel Introduction to Aesthetics –, ist wohl durch die formale Notwendigkeit motiviert, den 130 Seiten des Haupttexts und den nicht weniger als 17 Seiten Bibliographie am Ende ein Gegengewicht zu geben. Quantitativ. Qualitativ steht die verdichtete Seite des „Preface“ der hochspezialisierten Bibliographie am Ende des Bands und den 65 wittgensteinisch unbetitelten nummerierten Abschnitten gegenüber – Wollheim hatte 1953 die Philosophischen Untersuchungen in New Statesman and Nation (July 4, 1953), 46 (1165): 20-21 rezensiert und knüpft hier weit mehr als nur passagenweise an den späten Wittgenstein an. In der zweiten Auflage tritt an die Stelle des „Preface“ das vier Seiten lange eher technisch-punktative „The Argument/Das Argument“, das in einer seinerseits originellen, selten wiederholten Mischung eines Abstracts und eines französischen, analytischen Inhaltsverzeichnisses eine Gliederung der 65 Abschnitte präsentiert. Die Vorrede des „Preface“ ist damit keineswegs ersetzt oder überflüssig geworden. Im Gegenteil.

Der erste Absatz beginnt beinahe mit einem Motto. Wollheim zitiert den amerikanischen Maler Willem de Kooning mit seiner nominalistischen Aussage ‚Kunst ist ein Wort‘ – eine Minimal Art-Arbeit von Dan Flavin heißt „The Nominal Three“, eine des Konzeptkünstlers Joseph Kosuth „One and Three Chairs“. Wollheim greift de Kooning auf, ersetzt aber „Wort“ mit Begriff. Damit ist der Anschluß an den Linguistic Turn in der amerikanischen Ästhetik der 1950er Jahre markiert. Wollheim signifiziert mit dieser Reverenz an de Kooning, dass sein „Preface“ die wichtige moderne Tradition von Statements und Manifesten von Künstlern, insbesondere amerikanischer Maler der 1940er bis 60er Jahre aufnimmt. Sein Essay „Minimal Art“ in der Kunstzeitschrift Art International 1965 war selbst teils Manifest, teils Kunstkritik. Wollheim fühlt sich also der Avantgarde verbunden, wenn auch in der Position des Philosophen-Wir, nur „genauer“, „more precisely“.

Der zweite Absatz wechselt unmittelbar vom Philosophen-Wir zum allgemeinen Wir, zu uns allen, die wir der Kunst begegnen. Wir sind uns bewusst, ein Kunstwerk wahrzunehmen, ein work of art – eine Kunstarbeit nicht so sehr im Sinn von modern gesprochen einer ‚Arbeit einer Künstlerin‘ qua einem Werk, sondern im Sinn von ‚Arbeiten‘ als Produkten menschlicher, heißt gesellschaftlicher Arbeit schlechthin. Es ist zu vermuten, dass Wollheim damit einem der beiden „two deepest commitments of my life – the love of painting and devotion to the cause of socialism“ Genüge tut, die er im „Preface“ von Painting As An Art mitteilt. (London-UK: Thames and Hudson, 1987, 8). Aber unauflöslich verbunden mit dem wahrgenommenen gesellschaftlichen Produkt des Kunstwerks ist immer etwas, ein Objekt, das ein Fall für einen bestimmten Allgemeinbegriff ist, für den Begriff der Kunst. Wenn Kunst ein Begriff ist, dann weil bestimmte Objekte unter ihn fallen, von ihm subsumiert, klassifiziert werden. Diese Objekte als gesellschaftliche Produkte enthüllen ihr Wesen aber nicht (nur) vom Begriff her, sondern vom Machen, von unserem Machen. Wenn wir nicht schon von vornherein Künstler sind – so weit wie Beuys geht Wollheim nicht –, dann wenigstens könnten wir alle Kunst machen: ein Objekt, ein Werk, ein Stück, eine Arbeit in welcher der Künste auch immer. Auch hier und derart ist der Begriff Kunst am Werk, nun aber nicht (nur) des Unter-ihn-Fallens, sondern durch sein Regulieren, womit Wollheim einen wittgensteinschen Regelbegriff andeutet. (→ Abschnitte 56, 58 und 60 des Haupttexts)

Im dritten Absatz wird dieses Doppel unseres Kunstwahrnehmens und Kunstmachens auf das Doppel von Artefakt und Kunstbegriff umgelegt. Mehr noch, Kunstbegriff und Artefakte, art and its objects – hier in diesem Absatz ist er, der Titel des Buchs – treten in einer Einheit auf. Damit stellt sich Wollheim wie bereits in „Minimal Art“, ob gerechtfertigt oder nicht, gegen radikale Tendenzen der 1960er Jahre, aber auch theoretische Vereinfachungen des Common Sense. Wir können uns weder auf das Kunstobjekt (de Koonings Satz), noch auf den Kunstbegriff beschränken und zurückziehen, so „dass die Zeit des Objekts vorbei ist“: Tod des Objekts. Das wären bloße Gesten. Mit diesem Vorwurf schlägt sich Wollheim nicht nur auf die Seite von Michael Frieds Vorbehalt gegen eine Theatralität der Minimal Art und der an sie anknüpfenden Kunstströmungen. Wollheim setzt noch grundsätzlicher an, durchaus tricky, indem er Antikunst in der Übernahme des Platzes von Kunst vom begrifflichen auf das wörtliche Niveau herabsinken sieht.

Der vierte und letzte Absatz versucht aus dieser Stellung die Konsequenzen für das Verständnis von Ästhetik zu ziehen. Und das mit einem Begriff – Kunstwerk – und einer Metapher – Briefumschlag! Enigmatisch, um nicht zu sagen hermetisch. Um die Tradition von Platons Siebten Brief, Schillers Briefen und Heideggers <Brief an Jean Beaufret> Über den Humanismus auszuklammern: Das Kuvert wäre wohl der Kunstbegriff, der die Kunstwerke abdeckt, umhüllt, adressiert. Und doch: Wollheim hat dem Umschlag eine durchaus zentrale und komplexe, wenn auch beinah verborgene Funktion zugeordnet. Im Abschnitt 54 spricht er wenn auch von einer ganz anderen Richtung her mit Adrian Stokes, der in seiner Essayreihe Invitation to Art, zu der Wollheim das Vorwort schrieb, den Aufforderungscharakter von Kunstwerken hervorgehoben hat, vom „enveloping aspect“, in der deutschen Übersetzung 1982 vom „umfangenden Aspekt“. Dieses Enveloping, das mit den Klein-Winnicottschen Partialobjekten in Kunstwerken als affordance zugrunde gelegt ist, wie wir heute vielleicht sagen – würde es den philosophischen, theoretischen, begrifflichen Umschlag ergänzen, gegenhalten, fundieren, ersetzen? Muss mit Stokes, dem Wollheim Art and Its Objects widmete („For Adrian Stokes“ 1968; „In Memory of Adrian Stokes 1902–1972“ 1980), zum besseren Verständnis eine aristotelische Umklammerung eingefügt werden? Die Ästhetik, so Wollheim, verbindet das Kuvert der Kunstbegriffe mit den Kunstwerken und analysiert diese Verbindung. Indem das Kuvert aber auch psychisches Enveloping ist, wird dem Kunstbegriff die Dimension eines psychischen Fundaments unterlegt, das über einen aristotelischen Background verfügt. Vergessen wir nicht, dass Wollheim in den Proceedings of the Aristotelian Society 1950-51 über „Privacy“ nachdachte, 1954 über „The Difference between Sensing and Observing“, 1955-56 über „Equality“, 1960 über „How Can One Person Represent Another?“ und 1967-68, als Präsident der Aristotelian Society, über „Thought and Passion“. Damit müssten eigentlich psychische Aspekte in die Diskussion der Ästhetik zurückkehren mit „7. Sight and its object. 8. Hearing and its object. 9. Smell and its object. 10. Taste and its object. 11. Touch and its object“, als Objekte in ästhetischer Intention. (Aristotle, De anima, hg. v. Sir D. Ross, Oxford-UK: Clarendon Press 1967, „Contents“, s.p.). Wir nehmen Kunst wahr, wir machen Kunst, wir haben einen Kunstbegriff. Dieses Wahrnehmen, Machen und Begreifen deutet Wollheim als ineinander verschränkt an, vielleicht sogar als füreinander konstitutiv.


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