peter.mahr

<2022.3> L’art philosophique. Vom Diskuswerfer zum Diskustöner. Und über Sport und Tanz als Grenzen der Musik. Über meine Erfahrung beim Xenakis-Workshop der Wiener Festwochen 2022. 5.277 Zeichen. online 19. 6. 2022 .html 

Gestern am 18. Juni 2022 nahm ich an einem Workshop teil, der im Rahmen des Iannis-Xenakis-Schwerpunkts der diesjährigen Wiener Festwochen stattfand. In loser Anknüpfung an Xenakis’ elektroakustische Kompositionen und sein Bemühen um das klanggenerierende Computerprogramm Gendy fanden wir Teilnehmer*innen uns ein, um mit sechs verschiedenen Interfaces vorgefertigte Klänge/Geräusche zu produzieren, zu kanalisieren, abzuwandeln und nach Wahl mit den anderen ein, zwei oder drei vorfabrizierten Klangquellen in eine mehr oder weniger gesteuerte Interaktion zu bringen. Das alles geschah zum Zweck, mit den anderen Teilnehmer*innen und Musiker/Performer*innen in den Zusammenhang eines Spielens einzutreten und zusammen Musik zu machen, ja ein kleines Konzert zu geben.

Die Interfaces waren: 1 kleines Tablet mit einem wie bei allen anderen Interfaces nutzbaren Graphical User Interface (wenn ich es richtig verstanden habe, AirborneNTMI App, auf Basis von SuperCollider, der Programmiersprache für Echtzeit-Klangsynthese und algorithmische Komposition, die nicht zuletzt auf Xenakis’ Bemühungen ab den 1950er Jahren zurückgehen), 1 Gamecontroller (Ferrari Gamepad), 1 Keyboard (nanoKontrol 2) und, 3 Mal vorhanden, ein weißer frisbee-ähnlicher Diskus mit durch Daumen zu betätigenden acht Knöpfen zur Auswahl und Modulation der vier vorfabrizierten Klangquellen auf der einen Seite der Scheibe und, auf der anderen, zwei Mal vier kleine kreisförmige Sensoren, touch pads, für die Kuppen der restlichen acht Finger (nUFO, das 2018 an der Berliner Universität der Künste herausgebrachte NonTrivial Music Instrument). Die klanglichen Vorgänge mit diesen sechs Musikinstrumenten wurden von Wifi-Receivern abgenommen, die auf Laptops die kontrollierbaren Parameter und die eventuelle Interaktion der vier anzeigten Klangquellen- oder Klangstromprogramme anzeigten. Die Laptops dienten auch dazu, das Programm wieder hochzufahren, wenn es einmal ein Interface abgestürzt war, und schienen auch die sechs Verstärker zu sein, aber da kann ich mich täuschen. Für jedes der sechs Interfaces war jedenfalls ein Paar von Lautsprecher vorhanden. (Bislang scheint es keine programmierbare Interaktion zwischen zwei oder mehreren, einzelnen Instrumenten zu geben.)

Nachdem wir Workshop-Teilnehmer*innen mehr als eine Stunde nebeneinander in ziemlicher Lautstärke die Instrumente erprobten und ausprobierten und uns als Spielende erfuhren, kam es zu einer kurzen Probenphase. Der Rat der Workshop-Leitung (Alberto de Campo, Isak Han, Hannes Hoelzl, die auch nUFO mit Software entwickelten und produzieren), miteinander leise zu spielen und manchmal nichts von uns zu geben, tat Wunder. Das behutsame Zusammenspiel ließ erahnen, was alles in einer Improvisation mit komplexen vorgegeben Sounds möglich ist.

Ich tat mich am leichtesten mit dem nUFO, das anspruchsvolle Instrument für junge und weniger junge Erwachsene mit Interesse an Avantgarde-E-Musik. Es erfordert keine langwierig auszubildenden Fähigkeiten. Das Instrument erlaubt, Einfluß auf Gestalt und Verläufe von Klangkomplexen zu nehmen, etwa einen sinustonähnlichen Klang anzusteuern und langsam von sehr hoch zu sehr tief zu verändern, indem man die nUFO-Scheibe ebenso langsam von hoch über dem Kopf bis zu den Füßen hinunter bewegt. Komplexere, feinere Bewegungen sind auch möglich und können peu à peu erlernt werden, wie etwa mit dem Wii Balance Board im Sport.

Für dieses und eventuell ähnliche Instrumente würde ich gerne, mit stiller Refererenz an das deutsche LP-Label discoton der 1960er Jahre, den Namen Diskustöner vorschlagen.

Sport. Zweifellos ist der Diskustöner körperlich herausfordernd. Und so war es bereits der Diskus für Myrons Diskuswerfer, den δισκοβόλος, desssen Bewegungkunst den Körper des Werfers 360° rundum auf dem Wende- und Totpunkt des weit ausholenden Bewegungsendes zentriert: Hier, am höchsten Punkt, kommt der Werfer zur Ruhe, bevor er den eingeübten Akt des dreifachens Umsichwirbelns vollzieht, aus dem der Diskus auf seine Bahn geschickt wird. Der Wende- und Totpunkt wird zur Metapher für das Stillhalten und das Einfangen des Kairos, der für alle bildende Kunst von der Skulptur, zur Malerei und zur Fotografie konstitutiv ist. Der Diskustöner erstrebt seinen Haltepunkt in der Ruhe, die nicht durch das Ausschalten, sondern durch das Beruhigen der Klangquelle erreicht wird, eine mitunter langwierige und durchaus sportliche Anstrengung.

Tanz. Der Diskustöner, δισκοφών, kann, wenn zweckmäßig programmiert, zur tänzerischen Herausforderung werden. Nun fährt nicht die Musik in den Körper. Der Körper selbst bändigt durch extreme Bewegungen die Musik. Der verschwenderische Klangstrom ist gegeben, und es kommt für den musizierenden, gestalt-/formgebenden Körper in actu darauf an, die komplexe Klangquelle durch Körperbewegungen in eine sinnvolle Klangorganisation zu bringen. Hier hat sich also das Verhältnis von Klangerzeugung und Stille umgekehrt. Der Klang ist das Vorhandene, und die Stillen – die Klangreduktionen – müssen vom Körper eingezogen, eingebracht, eingebaut werden. Der Tanz ist frei expressiv – wir sehen nicht, was die Bewegung und vielleicht die Geste für einen Sinn hat – , aber wir hören, was der Körper mit den Klängen ‚tut‘, ohne dass hier überhaupt Zwecke im Spiel sein müssen. Auch dieser Tanz ist Kunst, invertierte Kunst.

Peter Mahr © 2022

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