peter.mahr


<2022.1>: Verbuchte Welt, ihre drei Epochen. 11.365 Zeichen. online 26.3.2022. html


"The poet Stephane Mallarmé thought 'the world exists to end in a book.' We are now in a position to go beyond that and to transfer the entire show to the memory of a computer." Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, 1964

Wenn wir sagen, wir kommen nicht zum Lesen, dann geht uns nicht der Computer oder das Internet oder SMS ab, sondern vor allem ein gutes Buch. Nun, so schlage doch ein Buch auf, halte es entspannt, spüre das Papier zwischen den Händen und Fingern, schlage eine Seite um, lasse den Buchblock am Daumen vorbeigleiten! Ins Buch versunken. Die Quelle des Vergnügens vergessen. Als ob das Buch nicht existiert, schauen wir selbstvergessen und wie abwesend durch ein Buch oder den E-Reader. Hinter diesem Erlebnis befindet sich eine lange Entwicklung von Epochen. Die letzte davon scheint das Buch in Frage zu stellen.

Erstens. Ein Buch befindet sich meistens in Sammlungen, zuerst Sammlungen von Rollen aus dem βίβλος, dem liber, dem Blatt aus dem Bast des Papyrusstengels. Das Wort selbst stammt von den frühmittelalterlichen dünnen Schreibtafeln aus Buchenholz. Bald beginnen sich Stapel beschriebener Holz- oder Wachstafeln durchzusetzen, Kodices, der Plural des Kodex. Bald sind es beschriebene, rechteckige Pergamentblätter, gefaltet und zwischen zwei hölzerne Deckel mit Metallbeschlägen gefasst: "Steck' es zwischen zwei Buchdeckel!" Geradezu wie 'kodifizierend' werden die Bibel und andere wichtige Bücher in den Klöstern des Mittelalters abgeschrieben und kommentiert. Ein 'Buch' kann auch Teil eines Buchs sein, etwa das 2. Buch Mose, das heißt, ein Buch kann mit einem anderen zusammengebunden werden, in einem anderen stecken. Oder es steht ein Buch neben oder liegt auf einem anderen Buch, das Alte Testament auf oder neben dem Neuen Testament, in einem Fach, in einem Regalfach. Epoche des Buchs Gottes, lautlose Stimme. Sie ist es, die mit der Vorlesung eines Buchs, eines Skriptums erklingt. Bald preiswerter produziert, wird das handgeschriebene Buch von Buchhaltern und Buchmachern bis ins 20. Jahrhundert verwendet, etwa bei Pferderennen oder bis heute in Form von Tagebüchern und Notizbüchern, Gästebüchern und Adressbüchern. Das ist die Epoche des handlinienschriftlich geschriebenen Buchs.

Zweitens. Johannes Gutenberg und allem voran seine Bibel wandeln das Buch zum gebundenen Stoß beidseitig bedruckter, gefalteter, ab dem 16. Jahrhundert auch nummerierter Papierblätter. Laut UNESCO müssen es mindestens 25 Stück sein. Typographisch gesetzt, erfasst das gedruckte Buch sehr bald das gesamte Schriftwesen. Alles Geschriebene soll im Buch gedruckt werden können. Über den freien Markt zugänglich wird das Buch zum Werk von Urhebern. Seriell produziert wie das Flugblatt und die Zeitung, verbreitet es immer mehr und immer schneller Informationen. Bald gibt es neben den institutionellen und privaten auch öffentliche Sammlungen von Büchern, Bibliotheken mit ihren weltklassifizierenden Ordnungssystemen, und Verlagsbuchhandlungen, die auf Buchmessen zusammentreffen. Büchernarren, die Bücher exzessiv lesen und sammeln, werden bald in Karikaturen bezeugt. Von Anfang an setzen sich im Buchdruck neben den gesetzten Buchstaben auch der Holzschnitt und der Kupferstich ebenso durch wie Standardformate bis herauf zum Taschenbuch nach 1945. Durch diese vielfältigen Prozesse vereinheitlicht der Buchdruck Sprachen und fördert die Bildung von Nationalstaaten. Ab dem 17. Jahrhundert erscheinen Zeitschriften zu Bänden gebunden. Zusammen mit dem Nachschlagewerk und der Werkausgabe bilden sie den Kern definierter Serien, die für das gedruckte Buch wesentlich werden. Das Buch wird zu einer noch immer gültigen Buchkultur, zu einer wie auch immer wandelbaren Metapher der Welt. Das naturwissenschaftliche Wissen der äußeren Augen lagert sich der im Buch hörbar gemachten, innerlich gewordenen Stimme an. Als Buch der Natur erscheint es in den geometrischen und arithmetischen Gesetzen der Dinge der Welt aufgeschlagen. Unabhängig davon treten Lebewesen in Büchern einer „Naturbibliothek“ auf. Leises Lesen verbreitet sich in der ganzen Gesellschaft als Kulturtechnik. Der Mensch wird im Ort des privaten Rückzugs, dem Roman, seiner eigenen Natur inne wie der eines Gesetzes des Herzens. Für diese Erfahrung bildet sich ein Lesepublikum, das von Frauen in literarischen Salons organisiert wird und in der Presse öffentlich diskutiert. Der alten Aufgabe einer umfassenden Repräsentation wird das Buch erneut gerecht in der gedruckten Enzyklopädie, der Referenz für Langzeitarchivierung schlechthin. Das ist die Epoche des typographisch gedruckten Buchs.

Dritte Epoche. Das Buch der Gegenwart wird mit der Telegraphie als Schatten vorausgeworfen, später mit dem Radio, Film, Fernsehen, Teletext und der Xerokopie. Nachdem Zellstoff und Holzschliff die relativ teuren Textilabfälle in der Papierproduktion ersetzten, beginnt der papierene Träger der Schrift zu verschwinden. Das Buch gerät an den Rand des Verbrauchsartikels. Zur Zeit, als Setzmaschinen den Handsatz ablösen, besannen sich Kunstbewegungen wie Arts & Crafts zurück auf die Buchmalerei des Mittelalters und die Drucke des Spätmittelalters und initiierten eine eigene Kunst des Buchs. Mit der Schreibmaschine und dem standardisierten Papierformat im Ringbuch, Spiralbuch und Aktenordner verliert das gebundene Buch seine besiegelndes Imprimatur. Die Anmutung des 'Privatdrucks' der Schreibmaschine und des Ordners kommen in Loseblattsammlungen wie der documenta 5-Katalog oder das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zum Ausdruck. Daneben greifen abseits von ersten Aufstellungen von Bücherkanons um 1900 die moderne Lyrik, die Zeitung und der Comic Strip die Serien der gebundenen Buchseiten ebenso an wie die lineare Schrift. Nun wird gesetzter Text zur Datei am Bildschirm, der nur mehr mit beständiger Stromzufuhr gelesen werden kann. Auf Kosten der Autor:innen oder gar Leser:innen können auf diese Weise Bücher so einfach wie nie zuvor produziert werden. Typographie, Layout, Printer und die Präsentation im Verbreitungsmedium des Internet werden erschwinglich oder kosten gar nichts mehr. Noch später wird der vom Papier ablösbare Text mit Hyper-Links durchsetzt und zur potenziell unendlichen Serien von Hypertexten. Was mit wenigen Klicks möglich ist, bestätigt technisch das Verweisen durch gedruckte Bücher über sich hinaus auf andere Bücher. Im „Megabuch“ Internet hängen Texte, Bilder, Filme und Sounds nur enger zusammen, egal ob auf einer Webseite oder zwischen Webseiten. Das Internet ausdrucken? Kein Problem. Das Service eines automatisch zusammenstellbaren Book-on-demand wird etwa von Wikipedia angeboten. Was fehlt, sind verlässliche Kataloge, heißt, transparent intelligente Browser und allgemein bekannte Regeln darüber, was diese Browser für wen verbuchen sollen. Das Gerät zum Erleuchten von Mikrofiches/-filmen war ein Electr(on)ic-Book-Reader avant la lettre. Das Hörbuch für den Cassettenrekorder oder den CD-Player war das E(lectronic)-Book avant la lettre. Nun aber scheint also das digitale Buch im maßstab- und ocr-fähigen pdf oder fließtextfreundlicheren Formaten wie epub oder djvu gar nicht anders als vom E-Book-Reader getrennt sein zu können. Das ist die Epoche des elektronisch-digitalen Buchs.

Aber gibt es überhaupt eine Epoche des digitalen Buchs? E-Book und E-(Book-)Reader reihen sich in das Metaphern-Marketing der heutigen diversifizierten Buchkultur ein. Wörter werden uns um die Ohren geworfen wie Notebook, MacBook, Facebook, Bookmark, Homepage (Titelblatt), Scrollen (Blättern) und Browser (Schmökerer). Weil die in E-Books reduplizierten gedruckten Bücher zusammen mit E-Readern immer größere Anteile in den Einnahmen ausmachen, trachten ihre Designer danach, das Buch zu rekorporieren. Dabei gilt es, wie sonst auch im Digitalen, den Konsum dieses Lesens erforschbar zu machen. Lange nach einem berühmten Philosophen ist 'Das Ende des Buchs' ein weiterer Topos jenes Marketings, das den Feldzug des E-Books gegenüber dem gedruckten Buch zu Beginn der 2010er Jahre ideologisch befeuerte. Käufer von Smartphones und Tablet-Computern sollen das neue System übernehmen, ob mit oder ohne E-Reader, besser mit. Da tendenziell alles digital mit einem einzigen Gerät in unserer Hand dirigiert werden soll, wird der E-Reader auch als Objekt von gadget lovers vermarktet. Damit ist das Buch der elektronisch-digitalen Epoche ein Simulakrum geworden, Trugbild und Trugobjekt zugleich.

Optimistischer gesehen: Obwohl es den E-Reader seit genau 30 Jahren gibt, ist den öffentlichen und privaten Vermittlung von Bücherlektüre und Büchervertrieb bislang wenig eingefallen den Bibliotheken, den Buchhandlungen. Als ob den Bibliotheken vom Internet die Luft abgeschnitten wird, kommen sie ihrer Kernaufgabe immer weniger nach. Der größte Teil der Bücher aus den Speichern wird kaum mehr entlehnt oder vor Ort gelesen. Abgesehen von der Onleihe und den Gratis-Download der in Massenlizenzen erworbenen Bücher für Studierende an Universitätsbibliotheken – ohne dass Wissenschaftsautor:innen angemessen oder überhaupt vergütet würden! verwandeln sich Bibliothekslesesäle in Lernhallen für Studierende mit Skripten. Das führt zum grotesken Schutz der buchlesenden Minorität: „Diese <einzige!> Leseplatzreihe steht vorrangig BenützerInnen von Bibliotheksmedien zur Verfügung.“ Sekundierend wurden und werden Bibliotheksbestände, ob von öffentlichen Bibliotheken unbezahlt beauftragt oder nicht, durch Tech-Giganten digitalisiert, reader-tauglich gemacht und indirekt monetarisert. Anstatt dass Biblotheken Bestände etwa von Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vor Ort so aufbereiteten, dass Appetit darauf entsteht, werden die Bestände trotz immer gefinkelteren Katalogen mehr und mehr vergessen.

Doch so wie die Bibliotheken sich um eine neue Kultur der Forschung bemühen müssten, müsste auch der Buchhandel reagieren. Die Invasion des digitalen Buchmarkts in traditionelle Strukturen hinein mit Raubkopien von teilweisen oder ganzen Büchern dürfte von ihnen schon gar nicht hingenommen werden. Treffen von und mit Kund:innen, die mit der Buchhändlerin und untereinander bekannt sind, sind da nur der Anfang. Einzelbuchhandlungen sollten sich auch um Druckapparate für Books-on-Demand erweitern, um Internet-Antiquariatsbestellungen und um Beratung punkto E-Readern. Dazu gehörte auch ein austariertes Mischangebot aus gedruckten Büchern und E-Books.

Bis jetzt jedoch nahezu unsichtbar geblieben ist die Produktion medienspezifischer E-Books. Weder haben sich bestimmte interaktive Weisen der Erweiterung eines Buchs zwischen der Autor:in und den Leser:innen etabliert. Noch gibt es in E-Readern und um sie herum für den fleischlichen „Reader“, wie ich einer bin, eine befriedigende Individualisierung des E-Books jenseits digitaler Lesezeichen und Annotationen. Noch haben die multimedialen Möglichkeiten der Erweiterungen um Sound, Film und Bild identifizierbare Formen oder Genres des digitalen Buchs hervorgebracht, die von seiten des Buchs zu international anerkannten Werken der Medienkunst geführt hätten. Es bleibt zu hoffen, dass die avancierten Formen des Hypertexts des 20. Jahrhunderts in den zukünftigen interaktiven Multimedia-E-Books des 21. zu ästhetisch und kommunikativ anspruchsvollen elektronischen und auch materialisierbaren Resultaten führen.

Peter Mahr © 2022

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