Unterhaltungs-Beilage des "Prager Tagblatt"

Nr. 8. 25. Februar 1912.
Erscheint jeden Sonntag.

Das Kind als Schöpfer

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Seele des
neugeborenen Kindes äußerst gestaltungsfähig ist.
Weich, gleichsam wie Wachs, läßt sie sich beliebig
beeinflußen, leer, wie ein unbeschriebenes Blatt
Papier, harrt sie der Eindrücke, die sie einst in sich
aufnehmen soll. Der Mensch ist ein Produkt seiner
Umgebung! Man wird diesem Satze eine wenn auch
bedingte Wahrheit zugestehen müssen. Eltern, Kin-
derstube. Schule, Straße, Heimat und welches alle
die geheimen Miterzieher des Menschen sein mögen,
lassen alle mehr oder weniger deutliche Spuren in
dem Kinde zurück.
Und doch hat jene gegenteilige Meinung, wo-
nach keine Einwirkung das Wesen, die eigentliche
Natur des Kindes umgestalten kann, ebenfalls
einen durchaus berechtigten Kern. Jedes Kind ist
zum Glück auch eine besondere Individualität, die
allen Einflüssen zum Trotz stets die eingeschlagene
Richtung beibehält. Diese unendliche kaleidoskopische
Buntheit der seelischen und körperlichen Anlagen
findet sich nicht nur unter den Menschen überhaupt,
sondern sogar unter den Gliedern einer Familie.
Mit Interesse wird jede Mutter schon diese Be-
obachtung an ihren eigenen Kindern gemacht haben.
Trotzdem sie desselben Blutes sind und im großen
und ganzen dieselbe Erziehung genossen haben, ist
dieses langsam, jenes lebhaft, dieses jähzornig,
jenes gutmütig, dieses intellektuell begabt, jenes
geistig beschränkt, dieses ein ausgesprochener San-
guiniker, jenes echt phlegmatischen Temperaments.
Wirklich, wenn Humboldt behauptete, es gäbe auf
der ganzen Erde nicht zwei vollständig gleiche Blät-
ter, so können wir diese Verschiedenheit im Wesen
der Menschen erst recht bemerken. "Und keine Zeit
und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die le-
bend sich entwickelt." Mögen daher auch zufällige
Einflüsse in Menge auf den jungen Menschen ein-
wirken, seine angeborene Natur werden sie doch
kaum jemals vernichten oder umgestalten können;
schon in den ersten Jahren wird es sich daher zeigen,
wohin einmal der Schatten des zukünftigen Baumes
fallen wird.
Was dem Kinde als Erbteil der Natur mit-
gegeben wurde, das setzt sich also auch immer
wieder durch, das macht die eigentlich schöpferische
Kraft aus. So kann man wohl mit Recht behaup-
ten, daß sich das Genie trotz aller Hindernisse seinen
Weg bahnt, so konnte man wohl von Raffael sagen,
daß er ein großer Maler geworden wäre, auch
wenn er ohne Arme zur Welt gekommen wäre.
Aber selbst wenn wir von solchen Ausnahmen voll-
ständig absehen, können wir doch auch bei jedem
Durchschnittskinde - natürlich eine liebevolle und
aufmerksame Beobachtung vorausgesetzt - ein so
eigenmächtiges Schaffen, eine selbstherrliche Betä-
tigung ursprünglicher Kräfte entschieden bemerken.
Ein Zeichen seiner schöpferischen Kraft ist
schon die Rücksichtslosigkeit, die Wahrheit, die Offen-
heit, mit der es sich den Menschen gegenüber gibt,
und die wir als Naivität so wohltuend, so erfri-
schend an ihm empfinden. Als kleines Kind weiß
es zum Glück noch nichts von der Verstellung der
Großen, von der gesellschaftlichen Etikette mit ihren
hohlen Phrasen, von den Unwahrheiten, die, selbst
schon eine harmlose Höflichkeit mit sich bringt; es

bringt nicht um Ausdruck, was andere Menschen,
besondere Verhältnisse ihm suggeriert haben, son-
dern äußert, was es eben selbst denkt und empfindet.
Was es daher in herzig erfrischender, manchmal
freilich auch in abstoßender Weise sagt und tut, das
ist lediglich Ausfluß seines eigenen Wesens, das ist
eigene Tätigkeit. Das kleine Kind kennt noch keine
Rücksichten; in seinen Äußerungen sehen wir es
deshalb selbst, echt unverfälscht. Zu wünschen wäre
nur, daß der Erwachsene einst einen Teil dieser,
goldenen Wahrhaftigkeit behielte, wenn er einst als
Kulturmensch unter anderen Menschen leben muß,
und jedenfalls gilt auch in dieser Beziehung das
Wort des Menschensohnes: "Werdet wie die
Kinder!"
Das Kind ist schon in seinen ersten Jahren
ein schaffender Künstler, ein Begriff, der ja immer
auf ein bestimmtes selbständiges Können hinweist.
Mit seiner Einbildungskraft, die ja in den ersten
Lebensjahren das ganze seelische Leben ausmacht
weiß es sich eine eigene Gedankenwelt zurechtzu-
zimmern. Als echter Künstler gestaltet es nun darin.
Mit ästhetischem Sinn weiß es die verschiedenen
Dinge seiner Umgebung in die vielfachen Beziehun-
gen zueinander zu setzen, Beziehungen, die in Wirk-
lichkeit niemals vorhanden sind, über die wir als
Erwachsene wohl nur ein Lächeln übrig haben.
Aber das schert ein echtes Kind wenig. Ihm ist
seine eingebildete Welt wirklicher als die ganze
reale Umgebung der Dinge. Es baut sich so Häuser
auf, in denen es sich glücklicher fühlt als mancher
in stolzen Marmorpalästen, in denen es unum-
schränkter gebietet als mancher König in seinem
Reich. Illusionen, nichts als Illusionen! würde
der Erwachsene dabei ausrufen, aber dem Kinde
besteht seine Wunderwelt dennoch aus festen Reali-­
täten. Hier schafft das Kind wirklich selbständig,
ohne jede Mithilfe, hier geht es mit größerem
Ernst, Eifer und Kraft an sein Schaffen, als später
oft an seine Arbeit.
Begleiten wir das Kind zu seinem Tun, um
diese allgemeinen Behauptungen erwiesen zu sehen.
Da erfreuen sich ein paar Kinder soeben an einem
Singespiel: "Häschen in der Grube" heißt es.
Wie lebt aber diese harmlose Geschichte in ihrem
Gemüt auf, wie wissen sie in ihrer Phantasie das
Ganze durchzuerleben, wie hüpfen sie jetzt einher,
wie ducken sie sich dann nieder! Ja, kommt denn
durch diese so lebendige Körpersymbolik nicht eine
bedeutende Schöpferkraft zutage? Wissen wir hier-
bei nicht ganz genau, daß in der Kinderseele in
diesen Augenblicken Leben vor sich gehen muß?
Dort spielen die Kleinen ein Bewegungsspiel
im Freien. Man beobachte sie dabei nur einmal
recht genau. Wie wir uns über sie freuen! Und
nicht nur über die graziösen äußeren Bewegungen,
sondern wieder auch über die lebhafte Gebärden-
und Leibessprache. Wie treffend und wie gehorsam
bringt doch dabei der Körper zum Ausdruck, was
gegenwärtig in der Seele vorgeht! Wie der ganze
Leib gleichsam wie beseelt ist, wie die einzelnen
Glieder zu reden scheinen, wie der ganze Körper
ein Ausdruck ist! Wie sich in Mimik und Bewegung
die schöpferische Phantasie äußert, wie Gebärden
und Bewegungen nur ein getreues Korrelat imĀ­
pulsiver Empfindungen sind! Und in dieser beseel-
ten Anmut ist nirgends etwas Gemachtes, Erzwun-

genes, sondern immer wirklich erlebtes Leben, eine
individuelle Erscheinung.
Und wieder sitzt das Kind bei seinem Spiel-
zeug. Vielleicht verharrt es äußerlich ganz ruhig,
und doch zeigt uns das Aufleuchten seiner Augen,
wie es in seiner Seele auflebt. Da wird das bunte
dürre Blatt zum goldenen Löffel, der grüne Zweig
zum großen Wald, der dürre Stecken zum schmucken
Roß. Die Hosentasche des Knaben, wieviel köst-
liche Dinge enthält sie oft! Ein langes Ende Bind-
faden, wieviel hundert Möglichkeiten tauchen bei
seinem Anblick in einem Kinderkopf auf. Es be-
lebt alle Dinge, mit denen es spielt. Die tote
Puppe wird zum lebendigen Menschen. Aber auch
in den geringsten Dingen, im bleiernen Soldaten,
im weggeworfenen Streichhölzchen lebt ihm Men-
schenart, hört es Menschensprache. Sehr richtig
sagt Jean Paul: "Jedes Stückchen Holz ist ein
lackierter Blumenstab, an welchem die Phantasie
hundertblätterige Rosen ausstängeln kann." Muß
das aber nicht eine im höchsten Grade schöpferische
Macht sein, die aus so einfachen, toten Mitteln eine
so lebendige Welt hervorzaubern kann?
Wo sich das Kind irgendwie betätigen kann,
da fühlt es sich auch glücklich. Darum ist ja auch
der Sandhaufen solch ein Juwel für dasselbe. Es
lebt ein ununterdrückbarer Drang nach Betätigung
in ihnen; deshalb bereiten sie sich ihr Spielzeug
gern allein und spielen am liebsten damit. Ebenso
hängt sicher der Zerstörungstrieb im Kinde mit
seiner Schöpferlust zusammen. Er hat nicht nur die
Neugierde, den Wissensdrang zur Ursache, sondern
vielleicht ebensosehr die ungestüme Lust, wieder
etwas aufzubauen. überläßt man ein Kind sich
selber, was tut es da am liebsten? Es malt oder
formt, es baut etwas aus oder reißt es nieder, es
will schaffen, selbsttätig sein. Wo es diese seine
drängende Energie betätigen kann, da tritt es uns
als wirklicher Schöpfer entgegen. Mit Freude ist
es daher zu begrüßen, daß der Zeichenunterricht
immer mehr Beachtung erlangt, daß man aber auch
den gesamten Handfertigkeitsunterricht immer mehr
in den Dienst der künstlerischen Kultur des Kindes
stellt.
Viele der Kräfte, die im Kinde tätig sind, hat
der Erwachsene verloren oder sie sind bei ihm auf
Kosten anderer Erscheinungen stark verkümmert.
So ist, das Kind noch gewöhnt, mir einem naiven,
unbescholtenen Auge zu sehen, die Welt der Er-
scheinungen unbefangen in sich aufzunehmen, an-
schaulich zu denken. Wir heutigen Kulturmenschen
sind davon gerade das Gegenteil. Wir sind noch
an ein abstraktes Denken gewöhnt, an ein erlerntes
Wissen aus Büchern. Anders das Kind. Seine Art
zu empfinden und zu denken ist noch lebensvoll,
erfahrungs- und anschauungsreich; es wächst noch
empor an der Welt der wirklichen Erscheinungen.
Was es so aufnimmt durch seine unverdorbenen
Sinne, das lebt in seiner Seele wieder mächtig auf
und steht vor allen Dingen in engster Beziehung
zum vielgestaltigen Leben. Was das Kind auf diese
Weise sich eigentlich selbst erarbeitet, macht im Ver-
gleich zu dem, was es später als Erwachsener und
besonders durch die Bücher hinzulernt, einen ganz
bedeutenden Bruchteil aus.
Als selbsttätiger Schöpfer zeigt sich das Kind
auch in der Bildung der Sprache. Gewiß wird sie
ihm in der Hauptsache von seinen Erziehern über-

mittelt, und doch kann man hierbei entschieden
auch von einer Selbstschöpfung sprechen. Als Natur-
laute formt es im ersten Jahre die Worte Papa und
Mama. Zwar ist es auch in der Sprache notwen-
dig, daß der Weg von der Anschauung zum Begriff,
zum Worte geht, daß das Kind also den Inhalt
eines Wortes erst einmal an einem bestimmten,
Falle erleben muß. Aber liegt nicht auch darin eine
mächtige Schöpferkraft, daß es nun das einmal ge-
wonnene Wort auch auf andere Fälle richtig, an-
wenden kann, besonders wenn es sich um völlig ab-
strakte Begriffe und Beziehungen handelt? Daß
das Kind aber auch insofern selbstherrlich mit der
Sprache umgeht, als es oft Dinge nach seinem
eigenen Gutdünken benennt, originelle Ausdrucks-
formen und Wortkombinationen äußert, ist jedem be-
kannt, der mit Kindern umgegangen ist.
Gewiß, es besteht nicht alles, was das Kind
in schöpferischer Weise schafft, vor dem Forum der
Vernunft, wir können, auch nicht immer alles gut
heißen, was es hervorbringt, aber darüber sollten
wir uns immer freuen, daß es überhaupt tätig ist.
Zu wünschen wäre nur, daß dem Menschen, wenn er
einst zum Erwachsenen wird, dieser Schaffenstrieb
noch in derselben Kraft innewohnte. Es gibt so
viele Leute, denen er fast ganz abhanden gekommen
ist; das sind die Stümper im Beruf, die rein me-
chanischen Arbeiter, die verdrossen und gleichgültig
ihre Arbeit vollbringen, die um des Geldes willen
bloß Brotarbeit verrichten. Alle Menschen aber,
die Tüchtiges leisten, die zu Pfadfindern des Men-
schengeschlechtes werden, sind die, in denen die
schöpferische Kraft unverkümmert geblieben, die die
Schaffensfreude auf ihren Flügeln zu immer neuen
Erfolgen führt. Und kann nicht ein jeder zu einem
Großen in seinem Kreise werden, so kann er doch
die Kräfte pflegen, die ihm Mutter Natur mitgab,
die er als Kind einst betätigte; jeder kann, wie es
das Kind glücklicherweise tut, "in seinem inneren
Herzen spüren, was er erschafft mit seiner Hand"
und das wird allemal schon viel zum Lebensglück
beitragen.