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An Julie und Hermann Kafka O nr. 119
Liebste Eltern, also die Besuche, von denen Ihr manchmal schreibt. Ich
überlege es jeden Tag, denn es ist für mich eine sehr wichtige
Sache. So schön wäre es, so lange waren wir schon nicht beisammen,
das Prager Beisammensein rechne ich nicht, das war eine
Wohnungsstörung, aber friedlich ein paar Tage beisammen zu sein in
einer schönen Gegend, allein, ich erinnere mich gar nicht, wann das
eigentlich war, einmal ein paar Stunden in Franzensbad. Und dann "ein gutes
Glas Bier" zusammen trinken, wie Ihr schreibt, woraus
ich sehe, dass, dass der Vater vom Heurigen nicht viel hält,
worin ich ihm hinsichtlich des Bieres auch zustimme. Übrigens sind
wir, wie ich mich jetzt, während der Hitzen öfters erinnere,
schon einmal regelmäßig gemeinsame Biertrinker
gewesen, vor vielen Jahren, wenn der Vater auf die Zivilschwimmschule
mich mitnahm.
Das und vieles andere spricht für den Besuch, aber zu viel spricht
dagegen. Nun, erstens wird ja wahrscheinlich der Vater wegen der Paßschwierigkeiten
nicht kommen können. Das nimmt natürlich dem Besuch einen großen
Teil seines Sinnes, vor allem aber wird dadurch die Mutter, von wem immer
sie auch sonst begleitet sei, allzusehr auf mich hingeleitet
sein, auf mich verwiesen sein und ich bin noch immer nicht sehr schön,
gar nicht sehenswert. Die Schwierigkeiten der ersten Zeit hier und in Wien
kennt Ihr, sie haben mich etwas heruntergebracht; sie verhinderten ein
schnelles Hinuntergehen des Fiebers, das an meiner weiteren Schwächung
arbeitete; die Überraschung der Kehlkopftuberkulose schwächte
in der ersten Zeit mehr, als sachlich ihr zukam.-
Erst jetzt arbeite ich mich mit der in der Ferne völlig unvorstellbaren
Hilfe von Dora und Robert (was wäre ich ohne sie!)
aus allen diesen Schwächungen hinaus. Störungen gibt es auch
jetzt, so zum Beispiel ein noch nicht ganz überwundener Darmkatarrh
aus den letzten Tagen. Da alles wirkt zusammen, dass ich trotz meiner
wunderbaren Helfer, trotz guter Luft und Kost, fast täglichen Luftbadens
noch immer nicht recht erholt bin, ja im Ganzen nicht einmal so im Stande,
wie etwa letzthin in Prag. Rechnet Ihr noch hinzu, dass ich nur
flüsternd sprechen darf und auch dies nicht zu oft, Ihr werdet gern
auch den Besuch verschieben. Alles ist in den besten Anfängen - letzthin
konstatierte ein Professor eine wesentliche Besserung
des Kehlkopfes und wenn ich auch gerade diesem sehr liebenswürdigen
und uneigennützigen Mann - er kommt wöchentlich einmal mit eigenem
Automobil heraus und verlangt dafür fast nichts . . . , so waren mir
seine Worte doch ein großer Trost - alles ist wie gesagt in den besten
Anfängen, aber noch die besten Anfänge sind nichts; wenn man
dem Besuch - und gar einem Besuch wie Ihr es wäret - nicht große,
unleugbare, mit Laienaugen meßbare Fortschritte zeigen kann, soll
man es lieber lassen. Sollen wir es nicht also vorläufig bleiben lassen,
meine liebe Eltern?
dass Ihr etwa meine Behandlung hier verbessern oder bereichern könnte,
müßt Ihr nicht glauben. Zwar ist der Besitzer des Sanatoriums
ein alter, kranker Herr, der sich mit der Sache nicht viel abgeben kann,
und der Verkehr mit dem sehr unangenehmen Assisten
als medizinisch, aber außer gelegentlichen Spezialistenbesuchen ist
vor allem Robert da, der sich von mir nicht rührt und, statt an seine
Prüfungen zu denken, mit allen seinen Kräften an mich denkt,
dann ein junger Arzt, zu dem ich großes Vertrauen
habe (ich verdanke ihn wie auch den erwähnten Professor dem Arch.
Ehrmann) und der allerdings noch nicht im Auto, sondern bescheiden mit Bahn
und Autobus dreimal Wöchentlich herauskommt.
Nach Max Brod, in dessen Kafka-Biographie dieser Brief auch überliefert
ist, soll Kafka diese Zeilen einen Tag vor seinem Tod niedergeschrieben
haben (vgl. FK 183 f.). Da sich aber aus einer von Dora verfaßten
Karte vom 26. Mai (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 120) erschließen läßt,
dass Kafka hier auf ein Schreiben der Eltern antwortet, das er wahrscheinlich
am Montag, dem 19. Mai, erhalten hatte (allenfalls ein oder zwei Tage später),
hat man wohl die Entstehung des Schreibens etwa 14 Tage früher auf
etwa den 19. dieses Monats anzusetzen.
das Prager Beisammensein: Kafka war am 17, März
aus Berlin nach Prag zurückgekehrt und blieb dort drei Wochen in der
elterlichen Wohnung.
wie Ihr schreibt: Vgl. Nr. 120.
hinsichtlich des Bieres: In einem an die Prager
Angehörigen gerichteten Brief schreibt Robert Klopstock aus Kierling:
"dass Franz so viel ißt, und so nahrhaft, er trinkt jetzt
z. B. zu den Mahlzeiten auch Bier (auch Wein oft), in das Dora, Somatose
hineinschwindelt, ohne Franzens Wissen - er bemerkt zwar, dass das
Bier nicht besonders gut ist, er trinkt es aber dann doch, ist allein Dora
zu verdanken, die immer an den Speisen etwas noch macht, Eier zusetzt etc.
- und nicht abläßt, bis er alles nicht gegessen hat."
(Vgl. Nr. 118 und Nr. 120)
gemeinsame Biertrinker gewesen: Kafka erzählte
Dora Näheres darüber: "Als kleiner Junge, als ich noch
nicht schwimmen konnte, ging ich manchmal mit dem Vater, der auch nicht
schwimmen kann, in die Nichtschwimmerabteilung. Dann saßen wir nackt
beim Buffet, jeder mit einer Wurst und einem halben Liter Bier zusammen
. . . Du mußt Dir das richtig vorstellen, der ungeheure Mann mit
dem kleinen ängstlichen Knochenbündel an der Hand, wie wir uns
zum Beispiel in der kleinen Kabine im Dunkel auskleideten, wie er mich
dann hinauszog, weil ich mich schämte, wie er mir dann sein angebliches
Schwimmen beibringen wollte und so weiter. Aber das Bier dann!" (FK
180)
allzusehr auf mich hingeleitet: Über Doras
Absicht, mit Kafka nach Böhmen zu reisen, schreibt Klopstock an die
Eltern: "es würde für Franz zwar schrecklich sein, käme
die Mutter her (jeder neue Mensch regt ihn so sehr auf, ich glaube auch
abgesehen von der Klinikereigniß - denn jeder neue Mensch ist ein
Gruß vom Leben, draußen, wo jetzt Frühling ist), ja, verhängnisvoll";
gleich schlimm wäre freilich eine Rückführung in die Tschechoslowakei:
"kein Vorwand würde so undurchsichtig sein, dass s e i n e Blicke
nicht durchdringen könnten."
mehr, als sachlich ihr zukam: Kafka an Max Brod:
"Hat man sich einmal mit der Tatsache der Kehlkopftuberkulose abgefunden,
ist mein Zustand erträglich." (Br 481)
Robert: Robert Klopstock kam Anfang Mai nach Kierling,
um Kafka ärztlich mitzubetreuen.
ein Professor: Max Brod berichtet: "Dora erzählte
mir, dass Franz vor Freude geweint habe, als ihm Professor Tschiassny
(schon in seinem letzten Stadium) sagte, im Hals sehe es besser aus. Er
habe sie immer wieder umarmt und gesagt, nie habe er so sehr Leben und
Gesundheit gewünscht wie jetzt." (FK 182)
ein junger Arzt: Klopstock berichtete darüber
an die Familie: "Ungeheuer wichtig und beruhigend ist der neue Arzt,
dem Franz auch so vertraut, der so selbstverständlich um alles sich
kümmert."
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at