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[An die Eltern]
[Fehlerhaft in der Biographie abgedruckt und in "Briefe an Ottla und die Familie" wiedergegeben]
Liebste Eltern, also die Besuche, von denen Ihr manchmal schreibt. Ich
überlege es jeden Tag, denn es ist für mich eine sehr wichtige
Sache. So schön wäre es, so lange waren wir schon nicht beisammen,
das Prager Beisammensein rechne ich nicht, das war eine
Wohnungsstörung, aber friedlich paar Tage beisammenzusein, in einer
schönen Gegend, allein, ich erinnere mich gar nicht, wann das eigentlich
war, einmal paar Stunden in Franzensbad. Und dann "ein gutes Glas Bier"
zusammentrinken, wie Ihr schreibt, woraus ich sehe, dass
der Vater vom Heurigen nicht viel hält, worin ich ihm
hinsichtlich des Bieres auch zustimme. Übrigens sind wir, wie
ich mich jetzt während der Hitzen öfters erinnere, schon einmal
regelmäßig gemeinsame Biertrinker gewesen, vor vielen Jahren,
wenn der Vater auf die Civilschwimmschule mich mitnahm.
Das und vieles andere spricht für den Besuch, aber zu viel spricht
dagegen. Nun erstens wird ja wahrscheinlich der Vater wegen
der Paßschwierigkeiten nicht kommen können. Das nimmt natürlich
dem Besuch einen großen Teil seines Sinnes, vor allem aber wird dadurch
die Mutter, von wem immer sie auch sonst begleitet ist, allzusehr auf mich
hingeleitet sein, auf mich verwiesen sein und ich bin noch immer nicht
sehr schön, gar nicht sehenswert. Die Schwierigkeiten der ersten Zeit
hier um und in Wien kennt Ihr, sie haben mich etwas heruntergebracht; sie
verhinderten ein schnelles Hinuntergehn des Fiebers, das an meiner weiteren
Schwächung arbeitete; die Überraschung der Kehlkopfsache
schwächte in der ersten Zeit mehr, als sachlich ihr zukam - erst jetzt
arbeite ich mich mit der in der Ferne völlig unvorstellbaren Hilfe
von Dora und Robert (was wäre ich ohne sie!) aus allen diesen Schwächungen
hinaus. Störungen gibt es auch jetzt, so z.B. ein noch nicht ganz
überwundener Darmkatharr [sic] aus den letzten Tagen. Das alles wirkt
zusammen, dass ich trotz meiner wunderbaren Helfer, trotz guter Luft
und Kost, fast täglichen Luftbades noch immer nicht recht erholt bin,
ja im Ganzen nicht einmal so imstande, wie etwa letzthin in Prag. Rechnet
Ihr noch hinzu, dass ich nur flüsternd sprechen darf und auch
dies nicht zu oft, Ihr werdet gern auch den Besuch verschieben. Alles ist
in den besten Anfängen - letzthin konstatierte ein Professor
eine wesentliche Besserung des Kehlkopfes und wenn ich auch gerade diesem
sehr liebenswürdigen und uneigennützigen Mann - er kommt wöchentlich
einmal mit eigenem Automobil heraus und verlangt dafür fast nichts,
so waren mir seine Worte doch ein großer Trost - alles ist wie gesagt
in den besten Anfängen, aber noch die besten Anfänge sind nichts;
wenn man dem Besuch - und gar einem Besuch, wie Ihr es wäret - nicht
große unleugbare, mit Laienaugen meßbare Fortschritte zeigen
kann, soll man es lieber bleiben lassen. Sollen wir es nicht also vorläufig
bleiben lassen, meine lieben Eltern?
dass Ihr etwa mein Behandlung hier verbessern oder bereichern könntet,
müßt Ihr nicht glauben. Zwar ist der Besitzer des
Sanatoriums ein alter kranker Herr, der sich mit der Sache nicht viel
abgeben kann, und der Verkehr mit dem sehr angenehmen Assistentzarzt
[sic] ist mehr freundschaftlich als medicinisch, aber außer
gelegentlichen Specialistenbesuchen ist vor allem Robert da, der sich
von mir nicht rührt und statt an seine Prüfungen zu denken, mit
allen seinen Kräften an mich denkt, dann ein junger
Arzt, zu dem ich großes Vertrauen habe /ich verdanke ihn wie
auch den oben erwähnten Professor dem Arch. Ehrmann/
und der
Da ich mich so zu dem Besuch verhalte, allerdings noch nicht im Auto, sondern
bescheiden mit Bahn und Autobus dreimal wöchentlich herauskommt.Ich nehme ihm den Brief aus d. Hand. Es war ohnehin eine
Leistung. Nur noch ein paar Zeilen, die seinem Bitten nach, sehr wichtig
zu sein scheinen:
Brief, 2 Doppelblätter, 22 x 14 cm, 1., 3., 5., 6. und 7. Seite mit
Tinte beschrieben. Abschließend mit Bleistift von der Hand Ottlas,
der Schwester Kafkas, in lateinischer Schrift hinzugefügt: Montag
geschrieben am 2. 6. 1924 gestorben 3. 6. 1924, von ihrer Tochter Věra
Saudková bestätigt. Beigelegt der beschädigte, nicht ursprüngliche
Umschlag mit Bleistiftzusatz in Kurrentschrift: Der letzte Brief von unserem
theueren Franz, offensichtlich von der Hand der Mutter.
Undatiert; die Zuordnung dieses Briefes stellt ein weiteres textkritisches
Problem dar. Max Brod, der im Unterschied zu Binder und Wagenbach das Original
des Briefes zur Verfügung hatte, datiert ihn auf den 2. Juni 1924.
Die Editoren der Briefe an Ottla und die Familie datieren ihn mit "ca.
19. Mai 1924". Es erhebt sich also die Frage, ob es sich um den allerletzten,
obendrein unvollendeten Brief von Kafkas Hand handelt, geschrieben in articulo
mortis, mit "Kafkaschem" Schluß, der ebenfalls unvollendet
ist, aus der Hand von Dora Diamant, oder um einen zwei Wochen jüngeren
Text, dem noch ein Brief an Brod und ein Zusatz auf dem Brief an die Eltern
gefolgt waren. Unserer Ansicht nach ist der Brief in Übereinstimmung
mit Brod zu datieren. Selbst wenn wir die fremden Zusätze, die dies
ausdrücklich bestätigen, nicht in Betracht zögen, sprechen
auch einige inhaltliche Gründe dafür. Die Zitierung aus dem elterlichen
Brief ("ein gutes Glas Bier") und die erneute Erwähnung
des jungen Weines versetzen diesen Brief in zeitliche Nähe zum vorhergehenden
Brief (Nr. 31) und der Karte vom 26. Mai 1924 (O, 157; vgl. auch Nr. 31,
Anm.5).
1] das Prager Beisammensein: Kafka denkt an seinen
kurzen Aufenthalt in Prag nach der Rückkehr von Berlin am 17. März
1924 bis zur Abreise in das Sanatorium Wienerwald am 5. April 1924.
2] wie Ihr schreibt: Offensichtlich auf der Karte
vom Sonntag, dem 18. Mai 1924 (vgl. Nr. 31, Notiz zur Zuordnung).
3] worin ich ihm hinsichtlich des Bieres auch zustimme:
Vgl. Nr. 31 und hierzu die Anm. 5.
4] wenn der Vater auf die Civilschwimmschule mich mitnahm:
Vgl. eins der Gesprächsblätter (Br, 491; Nr. 31, Anm.S) und das
Zeugnis Max Brods ("Sehr viel denkt er an den Vater, an Besuche der
Badeanstalt mit ihm, an kräftiges Essen und Trinken. Er erzählt
Dora: "Als kleiner Junge, als ich noch nicht schwimmen konnte, ging ich
manchmal mit dem Vater, der auch nicht schwimmen kann, in die Nichtschwimmerabteilung.
Dann saßen wir nackt beim Buffet, jeder mit einer Wurst und einem
halben Liter Bier zusammen. Gewöhnlich brachte der Vater die Wurst
mit, weil sie auf der Schwimmschule zu teuer war"." (Bi, 180)
5] der Vater wegen der Paßschwierigkeiten:
In Hermann Kafkas Akten im Archivbestand der Polizeidirektion in Prag findet
sich ein Gesuch von Franz' Vater um Ausstellung eines Passes erst vom Februar
1926; ein älteres Gesuch und auch keinerlei Gründe, die die Aushändigung
des Passes verwehrt hätten, sind angeführt (vgl. Faszikel Hermann
Kafka im SVA, Archivbestand PŘ 1920-1930, Sign. K 611/11, Kart.-Nr.
1495).
6] die Überraschung der Kehlkopfsache: Die
Kehlkopftuberkulose wurde bei Kafka in der Klinik Hajek am 10. April 1924
festgestellt. Um den 20. April herum schreibt Kafka an Brod: "Hat
man sich einmal mit der Tatsache der Kehlkopftuberkulose abgefunden, ist
mein Zustand erträglich..." (BRK II, 454)
7] letzthin konstatierte ein Professor: Laut Max
Brod: Prof. Dr. Kurt Tschiassny (geh. 1884). "Dora erzählte
mir, dass Franz vor Freude geweint habe, als ihm Professor Tschiassny
(schon in seinem letzten Stadium) sagte, im Hals sehe es besser aus. Er
habe sie immer wieder umarmt und gesagt, nie habe er so sehr Leben und
Gesundheit gewünscht wie jetzt." (Bi, 182)
8] der Besitzer des Sanatoriums: Dr. med. Hugo Hoffmann
(geb. 1862); er konnte sich wegen einer Magenerkrankung den Patienten seines
Sanatoriums nicht widmen, deshalb überließ er sie der Fürsorge
seiner Assistenten (RH, 126 und 132).
9] mit dem sehr angenehmen Assistentzarzt: Kafka
meint wahrscheinlich Dr. Fritz Müller, der als beginnender Arzt dem
Besitzer des Sanatoriums in Kierling half und Kafka behandelte (RH, 132
und 134).
10] außer gelegentlichen Specialistenbesuchen:
Zu Kafka nach Kierling reisten die Wiener Spezialisten Prof. Dr. Heinrich
Neumann und sein erster Assistent Doz. Dr. Oscar Beck. Doz. Beck schrieb
am 3. Mai 1924 an Felix Weltsch, der die Besuche beider Ärzte vermittelt
hatte, einen Brief, in dem er den tuberkulösen Zerfall des Kehlkopfes
konstatierte (vgl. Nr. 29, Anm.3).
11] dann ein junger Arzt, zu dem ich großes Vertrauen
habe: Nicht ermittelt; es handelt sich offenkundig nicht um Doz.
Beck, der ein Jahr älter war als Kafka.
12] Arch. Ehrmann: Vgl. Nr. 22, Anm.3.
13] und der 3mal der Woche herauskommt: Im folgenden
hat die Handschrift eine zweifache Fassung (auf zwei verschiedenen Seiten):
Die erste - ausnahmsweise auf der gegenüberliegenden ungeraden Seite
geschrieben -, mit der Kafka offenbar unzufrieden war, da er den Satz ausführlicher
beenden wollte, die jedoch noch den Anfang eines weiteren Satzes enthält:
"3mal die Woche herauskommt. Da ich mich so zu dem Besuch verhalte,".
Die andere Fassung berichtigt den Schluß des erwähnten Satzes:
"allerdings noch nicht im Auto, sondern bescheiden mit Bahn und Autobus
dreimal wöchentlich herauskommt.", an dessen Ende den Schreiber
jedoch die Kräfte verließen, so dass Dora Diamant die Feder
übernahm.
14] Ich nehme ihm den Brief aus d. Hand: Zusatz
von Dora Diamant.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at