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[An die Eltern] E 31
Ich hab schon ein sehr böses Gewissen. Dadurch,
dass der liebe gute Klopfstock [sic] schreibt, ist es nur noch
mehr schuldbewußt, wenn auch einerseits beruhigt. Es ist auch nicht
viel zu berichten. Viel beruhigender und überzeugender wäre alles,
wenn Sie einmal hier gewesen wären, und selbst gesehen hätten,
wie schön und gut Franz hier aufgehoben ist. Er liegt von Morgens
um 7 Uhr bis Abends 7 - 8 Uhr, auf dem Balkon. Bis Mittag um 2 ist Sonne
dann geht sie weg zu anderen Patienten, die auf der anderen Seite liegen,
und statt ihr steigt allmählig aus den Tiefen ein wunderbar berauschender
Duft auf, der wie Balsam wirkt. Bis Abend steigert er sich zu einer unglaublichen
fast nicht zu ertragenden Stärke. Und die Aussicht und die Klänge
rings-herum, schafft dem Auge und dem Gehör auch Atem-Organe. Alle
Sinne verwandeln sich zu Atem-Organen [sic] und alle zusammen atmen in
sich die Genesung, den Segen, der in Fülle rings-herum verbreitet
ist ein. Schade, dass ich nicht die Gabe besitze, es Ihnen schöner
zu beschreiben. So wie es richtig ist. Aber durch den Onkel,
Ottla und Max, die begabter sind, werden sie allmählig doch den
richtigen Eindruck gewinnen. Und da die Bekämpfung der Krankeit, einzig
und allein auf das angewiesen ist, muß man unbedingt glauben, und
sicher sein, dass es auch gelüngt [sic]. Die Tücken die
sich hie und da einstellen, werden mit wachsamen [sic] Auge sofort aufgefangen
und nach Möglichkeit beseitigt. Die Halsschmerzen, die manchmal in
leichter Form auftauchen, sind ganz unbedeutend, und, besonders, da der
Hals in ständiger Behandlung ist, absolut keinen Anlaß zur Beunruhigung
geben. Deswegen habe ich sie auch in den letzten Briefen selten erwähnt,
weil Sie sich doch von der Ferne, trübe Gedanken darüber gemacht
hätten. Jetzt ruft es zu Mittag. Ich bin oben bei Klopfstock, Franz
schläft unten. Hoffentlich werde ich ihm [sic] nicht wecken müssen.
Wegen Temperatur und sonstigem, erzählt mir eben Klopfstock, dass
er schon geschrieben hat. Was das für ein wunderbarer Mensch ist!
Ihre Beziehung zu mir in den Briefen macht mich jedes Mal von Neuem glücklich.
Bloß, weiß ich nicht ob es mir zukommt. Ich will mir Mühe
geben es zu verdienen.
Viele, viele herzliche Grüße. Darf ich einmal
so nach Ihrer warmen herzlichen Art, auch so die Arme zur Umarmung ausstrecken?
Wie das gut tut! Nochmal herzlichst.
Dora
Liebste Eltern nun hat aber meine Schreibfaulheit wirklich alle Grenzen
überschritten, nicht einmal für Eueren lieben gemeinsamen
Brief, der mir solche Freude gemacht hat, habe ich noch gedankt. Es
ist aber nicht nur mit dem Schreiben so, in meinem ganzen Leben seit den
Säuglingszeiten habe ich mich von allem was ein wenig Mühe und
Arbeit genannt werden könnte, ferngehalten wie jetzt; warum auch nicht,
da ich Dora und Robert habe. Höchstens das Essen ist ein wenig anstrengender
als es das stille Saugen damals gewesen sein mag. Aber auch das Essen suche
ich mir zu erleichtern z.B. was Dir liebster Vater vielleicht gefallen
wird, durch Bier und Wein, Doppelmalz-Schwechater und Adriaperle, von welcher
letzterer ich jetzt zu Tokayer übergegangen bin. Freilich, die Mengen,
in denen es getrunken und die Art in der es behandelt wird, würden
Dir nicht gefallen, sie gefallen mir auch nicht, aber es geht jetzt nicht
anders. Warst Du übrigens als Soldat nicht in dieser Gegend? Kennst
Du auch den Heurigen aus eigener Erfahrung?
Ich habe große Lust, ihn einmal mit Dir in einigen ordentlichen großen
Zügen zu trinken. Denn wenn auch die Trinkfähigkeit nicht sehr
groß ist, an Durst gebe ich es niemandem nach. So habe
ich also mein Trinkerherz ausgeschüttet.
Herzlichste Grüße Euch und allen
F
Geld brauchen wir augenblicklich nicht; übrigens höre ich von
einem ungeheueren Geldgeschenk, ich wage gar nicht deutlicher danach zu
fragen.
Brief, 1 Doppelblatt, 22 x 14 cm, 4 Seiten mit Tinte beschrieben.
Undatiert; die Zuordnung ist schwierig, sie ist annähernd nach dem
Text bestimmt. Wichtig für die Zuordnung ist Doras Brief (mit Kafkas
Zusatz) an die Eltern vom Montag, dem 26. Mai 1924: "Ich will, wenn
auch sehr verspätet, auf die so schöne letzte Karte von Sonntag
antworten. Was das für ein Freuden-Austausch war! Ihre Karte und Franzens
Brief. Wenn es doch immer so wäre. Sie hat nicht weniger Freude zu
Folge gehabt als der Expreßbrief. Franz hat sie beinahe auswendig
gelernt. Ganz besonders stolz ist er auf die Möglichkeit, mit seinem
ehrwürdigen und lieben Vater, ein Glas Bier zu trinken." (O,
216) Den Expreßbrief von den Eltern ("Eueren lieben gemeinsamen
Brief"), der einen Bericht über einen Ausflug Ellis und ihrer
Familie enthält, bekam Kafka laut Binder und Wagenbach wahrscheinlich
am 17. Mai. Am selben Tag schreibt Klopstock an Kafkas Familie über
Franz' Reaktion auf den Bericht über den Ausflug: "Wie er das
gehört hat, sagte er - mit leuchtenden Augen, wie eine Sonne, "dann
haben sie auch Bier getrunken", das sagte er aber in einer solchen Begeisterung,
und Aufgehen in der Freude, dass wir, die es gehört haben, mehr
jenes Bier, das dort getrunken wurde, genossen haben, als die, die es wahrhaftig
getrunken hatten. Er trinkt, wie ich schon einmal geschrieben jetzt zu
jeder Mahlzeit Bier, es so genießend, dass es ein Ergötzen
ist, ihn anzuschauen." (O, 216) Am Sonntag, dem 18. Mai schickten
die Eltern an Franz eine Karte, auf der der Vater offensichtlich die Möglichkeit
erwähnte, mit seinem Sohn ein Glas Bier zu trinken. Weil Franz sich
in unserem Brief dafür entschuldigt, dass er noch nicht für
"Eueren lieben gemeinsamen Brief", den er am 17. Mai erhielt,
gedankt hat, weil das Wort "Austausch" in Doras Text vom 26.
Mai andeutet, dass die Karte der Eltern und Franz' Brief zeitlich
nicht auseinander lagen, und weil Dora und Franz die Karte der Eltern bis
zum 26. Mai beantworteten, kann man voraussetzen, dass unser Brief
Nr. 31 um den 19. Mai herum geschrieben worden ist, kurz vor Erhalt der
Karte vom 18. Mai. Es scheint also, als gehöre dieser Brief an den
Platz, den Binder und Wagenbach dem bekannten Brief Nr. 119 ihrer Edition
(O, 155-156) vorbehalten, den sie aus Brods Biographie (Bi, 183-184) übernommen
haben.
1] Ich hab schon ein sehr böses Gewissen: Geschrieben
von Dora Diamant.
2] Dadurch, dass der liebe gute Klopfstock schreibt:
Damit erklärt sich die Abnahme der Korrespondenz zwischen Franz (Dora)
und den Eltern im Mai 1924 sowie der zeitliche Abstand zwischen Nr. 30
und 31 dieser Edition.
3] durch den Onkel, Ottla und Max: Wann Siegfried
Löwy und Ottla in Kierling waren, ist nicht gesichert. Dora bittet
schon bei der Abreise Kafkas aus Wienerwald am 10. April (vgl. Nr. 22)
darum, dass "der Onkel oder sonst jemand" zu Besuch komme.
Brod besuchte Kafka am 12. Mai (Bi, 181).
4] Eueren lieben gemeinsamen Brief. Der Expreßbrief,
den Kafka laut O, 216 am 17. Mai erhielt (vgl., oben Notiz zur Zuordnung).
5] So habe ich also mein Trinkerherz ausgeschüttet:
Hierzu später der Text aus der Karte, die Dora und Franz am 26. Mai
1924 an die Eltern schickten. Dora schreibt: "Franz ist ein leidenschaftlicher
Trinker geworden. Kaum eine Mahlzeit ohne Bier oder Wein. Allerdings in
nicht zu großen Mengen. Er trinkt wöchentlich eine Flasche Tokayer
[...] aus. Wir haben 3erlei Wein zu Verfügung, um es, so nach rechter
Feinschmecker-Art, recht abwechslungsreich zu machen." (O, 216) Franz
will in seinem Zusatz offenbar den Eindruck korrigieren, den seine Eltern
aus dem Brief Nr. 31 dieser Ausgabe hätten gewinnen können: "Liebste
Eltern, nur eine Richtigstellung: meine Sehnsucht nach Wasser (wie es bei
uns immer in großen Gläsern nach dem Bier auf den Tisch kommt!)
und nach Obst ist nicht kleiner als nach Bier, aber vorläufig gehts
nur langsam." (O, 157) Das Drama des durstgepeinigten Patienten zeigt
sich vor allem aber in den sogenannten Gesprächsblättern, die
dem sprechunfähigen Kafka die Kommunikation mit der Umwelt ermöglichten:
"Glauben, dass ich einmal einen großen Schluck Wassers
einfach wagen könnte." - "Frag, ob es gutes Mineralwasser
gibt, nur aus Interesse." (Br, 485) "Das Schlimme ist, dass
ich nicht ein einziges Glas Wasser zu mir nehmen kann, ein wenig sättigt
man sich auch an dem Verlangen." (Br, 488) "Wie wunderbar das
ist, nicht? der Flieder - sterbend trinkt er, sauft er noch." - "Das
gibt es nicht, dass ein Sterbender trinkt." - "Bei dieser
Trinkfähigkeit kann ich noch nicht mit dem Vater in den Zivilschwimmschul-Biergarten
gehn." - "Warum habe ich es im Spital nicht einmal mit Bier
versucht..." (Br, 491).
um den 19. Mai 1924]
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at