Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[An die Eltern] E 29
Wir sind leider noch imer nicht im Besitz des Paketes, nebst beigefügten
schönen Brief. Ob nicht damit etwas geschehen ist? Ich habe, natürlich
die Adresse Franzens im Kranken[haus] angegeben. Ich nehme an, dass
es zurückgegangen ist. Schade. Franz könnte so schön
den Polster benötigen. Das andere Paket ist aber schon auf dem
Wege. Es wird mit Sehnsucht erwartet. Franz geht es leidlich, er hat noch
immer in manchen Stunden Fieber. Das Wetter, das Wetter! Aber wir wollen
nicht klagen. Es strengt sich nach Möglichkeiten an. Heute war Franz
wieder einwenig draußen in der Sonne. Sonnabend kommt ein Arzt aus
Wien, ein sehr gelobter und berühmter Lungenarzt.
Er kommt auf Veranlassung eines Freundes von Felix Weltsch,
und wird wohl manche Anordnungen treffen. Sobald er da
gewesen ist, schreibe ich. Der Hals ist unverändert. Beim Essen oder
sonst stört er nicht, nur einwenig heiser.
Heute wieder ein schöner Tag ich liege auf dem Balkon und habe es
recht gut. Felix und Dora haben nicht nachgeben
kommen, ich habe große Angst vor ihm, er hätte schon einmal,
zu einem Patienten hierher ins Sanatorium kommen sollen, aber es verschlug
sich weil er für den Besuch 3 Millionen verlangte.Herzliche Grüße
F
Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich
der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Altstädter Ring Nr. 6, III poschodí.
Neben der Adresse der Zusatz 25/4 1924, offensichtlich von der
Hand der Mutter. Frankierung: 1600 österreichische Kronen.
Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel: 25.IV.24, bestimmt.
1] Franz könnte so schön den Polster benötigen:
Vgl. Nr. 28.
2] ein sehr gelobter und berühmter Lungenarzt:
Wahrscheinlich Dr. med. Heinrich Neumann, seit 1919 außerordentlicher
Professor und Primarius der Universitätsklinik für Ohren-, Nasen-
und Kehlkopfleiden in Wien. Sein erster Assistent war Dr. med. Oscar Beck,
Dozent der Otiatrie, der mit Felix Weltsch in Verbindung stand. Am 3. Mai
1924 schreibt er ihm in einem Brief, den Max Brod zitiert: "Gestern
wurde ich von Fräulein Diamant nach Kierling gerufen. Herr Kafka hatte
sehr starke Schmerzen im Kehlkopf, besonders beim Husten. Bei der Nahrungsaufnahme
steigern sich die Schmerzen derart, dass das Schlucken fast unmöglich
ist. Ich konnte im Kehlkopf einen zerfallenden tuberkulösen Prozeß
konstatieren, der auch einen Teil des Kehldeckels mit einbezieht. Bei diesem
Befund ist an irgendeinen operativen Eingriff überhaupt nicht zu denken,
und ich habe eine Alkoholinjektion in den nervus laryngeus superior gegeben.
Heute rief mich Fräulein Diamant wieder an, um mir zu sagen, dass
der Erfolg nur ein vorübergehender war und die Schmerzen in derselben
Intensität wieder aufgetreten sind. Ich habe Fräulein Diamant
geraten, Herrn Dr. Kafka nach Prag zu bringen, da auch Professor Neumann
seine Lebensdauer auf zirka drei Monate geschätzt hat. Fräulein
Diamant hat dies abgelehnt, da sie glaubt, dass dadurch dem Patienten
die Schwere seiner Erkrankung klar würde.
Es wird angezeigt sein, wenn Sie seine Verwandten über den Ernst der
Situation vollständig aufklären. Es ist mir psychologisch begreiflich,
dass Fräulein Diamant, die sich in aufopfernder und rührender
Weise des Kranken annimmt, das Verlangen hat, noch eine Anzahl Spezialisten
zum Consilium nach Kierling zu rufen. Ich mußte ihr daher klarmachen,
dass Dr. Kafka sowohl in der Lunge als auch im Kehlkopf in einem Zustand
sich befinde, in dem kein Spezialist ihm mehr Hilfe bringen kann und man
nur durch Pantopon oder Morphium die Schmerzen lindern kann." (Bi,
179)
In Betracht kommt allerdings auch Prof. Dr. Wilhelm Neumann, der seit 1921
Primarius der Tuberkuloseabteilung im Wiener Wilhelminenspital war und
der später der "Lungenpapst" genannt wurde. Über
ihn siehe H. Klima, Hofrat Prof. Dr. Wilhelm Neumann - der
3] Felix Weltsch: Dr. jur. und Dr. phil. Felix Weltsch
(1884-1964) gehörte zum engen Freundeskreis Kafkas, er besuchte, einen
Jahrgang nach ihm, dasselbe Altstädter Gymnasium. Kafka hatte ihn
durch Vermittlung Brods 1903 näher kennengelernt. Später war
Weltsch Angestellter der Prager Universitätsbibliothek und schrieb
Bücher vor allem philosophischreligiösen Inhalts.
4] und wird wohl manche Anordnungen treffen: Hier
folgen etwa fünf durchgestrichene Wörter.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at