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[An die Eltern] E Nr. 18

[Berlin-Zehlendorf, 1. März 1924]
 


Liebste Eltern, Dank für die Karte und die Ankündigung der Weste und die 1400 K. Wegen der Butter macht Euch keine Sorgen, man bekommt sie hier reichlich. Vor allem aber werde ich ja vielleicht gar nicht lange mehr hier bleiben. Der Onkel treibt mich fort und D. treibt mich fort, ich aber bliebe am liebsten. Die stille, freie, sonnige, luftige Wohnung, die angenehme Hausfrau, die schöne Gegend, die Nähe Berlins, das beginnende Frühjahr - das alles soll ich verlassen, blos weil ich infolge dieses ungewöhlichen Winters etwas erhöhte Temperatur habe und weil der Onkel bei ungünstigem Wetter hier war und mich nur einmal in der Sonne gesehen hat, sonst aber einigemal im Bett, wie es eben auch voriges Jahr in Prag so war. Sehr ungern werde ich wegfahren und zu kündigen wird mir ein schwerer Entschluß sein. Nun ich habe es dem Onkel versprochen und seine unendliche Güte zu mir verpflichtet mich natürlich auch. Aber nun soll ich vielleicht auch noch ins wahnsinnig teuere Sanatorium, gerade jetzt, wo ich für den etwas schweren Winter an jedem Ort durch Besserung der Gesundheit belohnt worden wäre und ein etwas freieres Leben hätte führen können, wie es mir hier im Norden nur im Frühjahr und Sommer erlaubt ist. Schwere Dinge, schwere Entschlüsse.

Herzlichste Grüße

Euer F.


Danke Felix und Hanne für ihre Briefe. Wie habt Ihr das Geld von der Anstalt bekommen?




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, ein schließlich der Adresse: Herrn Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí č 6/IIIposch., Tschechoslowakei. Über der Adresse der Zusatz 1/3 1924, offenbar von der Hand der Mutter. Frankierung: 15.

Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel, 1.3.1924, bestimmt.


1] Ankündigung der Weste: Vgl. Nr. 13 und 14.


2] Der Onkel: Vgl. Nr. 16, Anm.1.


3] die angenehme Hausfrau: Frau Dr. Busse; vgl. Nr. 13, Anm. 11 und Nr. 14.


4] ins wahnsinnig teuere Sanatorium: Zu diesem Zeitpunkt dachte die Familie offensichtlich an einen Aufenthalt in Davos (über die dortige Teuerung schreibt Kafka gleichzeitig an Brod, BRK II, 453). Noch am 19. März 1924 teilt er dem Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Dr. Odstrčil dies mit (vgl. L, 82, FKAS 322). Schließlich wurden aber andere Möglichkeiten erwogen. Für alle Fälle bat er die Familie, ihm einen Reisepaß, der für mehrere Länder Gültigkeit hatte, zu besorgen. (Vgl. hierzu Johann Bauer [d. i. Josef Čermák], Kafka und Prag, Stuttgart: Belser Verlag 1971.) Kafka ging schließlich in das Sanatorium Wienerwald bei Ortmann in Niederösterreich. Vgl. Nr. 19, Anm.6.


5] schwere Entschlüsse: Gründe für und gegen ein Sanatorium nennt Kafka in einem Brief an Robert Klopstock aus jener Zeit, den Brod mit Anfang März 1924 datiert: "Vielleicht - eigentlich denken wir ernstlich daran - kommen wir bald nach Prag, käme ein Wiener Waldsanatorium in Betracht, dann gewiß. Ich wehre mich gegen ein Sanatorium, auch gegen eine Pension, aber was hilft es, da ich mich gegen das Fieber nicht wehren kann. 38 Grad ist zum täglichen Brot geworden, den ganzen Abend und die halbe Nacht . . . Sehr ungern gehe ich von hier fort, aber den Gedanken ans Sanatorium kann ich doch nicht ganz abweisen, denn da ich wegen des Fiebers schon wochenlang nicht außerhalb des Hauses war, im Liegen mich zwar stark genug fühle, aber irgendwelche Wanderungen noch vor dem ersten Schritt den Charakter der Großartigkeit annehmen, ist manchmal der Gedanke, sich lebend-friedlich im Sanatorium zu begraben gar nicht sehr unangenehm. Und dann doch wieder sehr abscheulich, wenn man bedenkt, dass man sogar in diesen für die Freiheit vorbestimmten paar warmen Monaten die Freiheit verlieren soll. Aber dann ist wieder der stundenlange Morgen- und Abendhusten da und das fast täglich volle Fläschchen, - das arbeitet wieder für das Sanatorium. Aber dann z. B. wieder die Angst vor den dortigen, schrecklichen Essenspflichten." (Br, 477-478)


6] Felix und Hanne: Erstes und drittes Kind von Kafkas Schwester Elli Hermann; zu Felix vgl. Nr. 1, Anm.21; Hanne wurde 1920 geboren.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at