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[An die Eltern] E Nr. 16

[Berlin-Zehlendorf, 20. Februar 1924]
 


Mittwoch abend)      Liebste Eltern, eben bekomme ich die Karte von Onkel Siegfried zu meiner großen Überraschung. Unter anderen Umständen hätte sie mich sehr gefreut, so weiß ich aber nicht recht, was ich von ihr halten soll. Halte ich die Karte zusammen mit Eueren früheren Briefen, nach welchen Du liebe Mutter mit dem Onkel im Frühjahr kommen wolltet oder mit des Onkels Brief, in dem er von einer Berliner Reise weder für später noch für jetzt etwas erwähnte oder mit dem Brief des Fräuleins, nach welchem der Onkel nach Wien fahren wollte - denke ich an das alles, muß ich doch sehr erstaunt sein und kann im Hinblick auf eine Stelle in Euerem Paket-Brief, die von irgendwelchen Sorgen handelt, nur befürchten,dass diese gänzlich unbegründeten Sorgen zu meinem Leidwesen dazu geführt haben, dass der arme Onkel jetzt mitten im Winter die Reise in das teuere Berlin und gar noch in das entfernte zu dieser Jahreszeit für einen Fremden höchst uninteressante Zehlendorf unternimmt, während er wahrscheinlich am liebsten friedlich in Prag bliebe oder höchstens in das fröhlichere Wien fahren würde, das er so liebt. Wenn es sich wirklich so verhält - und es scheint kein Zweifel daran zu sein - tut es mir ungemein leid. Wir werden noch morgen telephonisch - wenn wir die Nr. finden, die bei der übersiedlung sich irgendwo verkrümmelt hat - einzugreifen suchen. - Für Euere zwei lieben Briefe und das schöne heute angekommene Paket danke ich noch nächstens.

Die Sonne genieße ich jetzt auf der Veranda prachtvoll.




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Herrn Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí č 6/III posch., Tschechoslowakei. Frankierung: 15.

Undatiert; Zuordnung nach Kafkas Angabe des Wochentages Mittwoch abend und nach dem Poststempel (von Donnerstag), 20.2.1924, bestimmt.


1] die Karte von Onkel Siegfried: Da sich Kafkas Gesundheitszustand verschlechterte, "alarmierten" die beunruhigte Familie und, nach eigener Aussage (Bi, 177), Max Brod Kafkas Onkel, den Arzt Dr. Siegfried Löwy, "der nach Berlin fuhr und das Schlimmste konstatierte". Kafka reagiert hier auf die Karte des Onkels, mit der er seine Ankunft in Berlin ankündigte. Vgl. auch Nr. 17.


2] Brief des Fräuleins: Vgl. Nr. 3, Anm.9.


3] auf der Veranda: Vgl. Nr. 15, Anm.1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at