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[An die Eltern] E Nr 14

[Berlin-Zehlendorf, 2.-7. Februar 1924]
 


Liebste Eltern ist das ein großer, inhaltsreicher, geldüberfließender Brief. Wie gut Ihr alle zu mir seid zu diesem nichtstuerischen, sich-pflegen-lassenden und dabei noch nicht einmal dickwerdenden Menschen. - Lange habe ich gerade jetzt aus dem Fenster geschaut in die Gärten und zum Wald hin, um dort irgendeinen klugen Rat dafür zu finden, wie ich mich zu dem großartigen Angebot des Onkels verhalten soll. Am besten wäre wohl das Geld mit einem stillen Vergelts Gott einzustecken, aber das kann ich leider nicht, einstecken werde ichs wohl, fürchte ich, aber immer irgendeinen Krawall dabei machen. Eine besonders für die andern unglückliche Anlage. Nun jedenfalls danke ich dem Onkel vielmals, übrigens vielleicht wird es hier jetzt doch ein wenig besser werden, auch hatte ich noch keinen Monat ohne außerordentliche Ausgaben (was allerdings wahrscheinlich niemand hat und was es gar nicht gibt) vielleicht lassen sich die Ausgaben doch ein wenig einschränken; wenn Ihr herkommen solltet, werdet Ihr ja sehn, wie üppig ich lebe. Dem Onkel werde ich noch schreiben. Auch Elli, von der ich heute einen langen lieben Briefbekommen habe. Seit Samstag sind wir in der neuen Wohnung. Auch der Schluß der Übersiedlung war ganz glatt, für mich wenigstens. Zum allerletzten Schluß gabs zwar noch eine Schwierigkeit, das Wetter war schlecht, Kot, Regen, Wind, verschiedener Krimskrams war noch mit dem Wägelchen zur Bahn zu transportieren (Dinge die ich im Stand nicht heben kann und die D. leicht zur Bahn bringt, dort die Treppen auf und ab trägt, ins Coupe [sic] schafft u.s.w.) und dann in Zehlendorf die Viertelstunde von der Bahn ins Haus, vor allem aber war ich in dieses Wetter zu transportieren und die Galoschen waren schon in Zehlendorf - da kurz entschlossen, geldauswattiert wie ich war, ließ ich ein Auto kommen und im Husch in paar Minuten waren wir mit allem Gepäck in der neuen Wohnung, eine Zauberei allerdings für schöne sechs Mark. In der neuen Wohnung wird es wohl recht gut werden, am ersten Tag schien sie wohl etwas lauter als die frühere, endlos stille, aber es dürfte sich beruhigen. Manches ist besser; das in voller, allerdings jetzt vollständig abwesender Sonne liegende Hauptzimmer, die größere Freiheit, die das Im-ersten-Stock-wohnen gibt, die noch ländlichere Umgebung als in Steglitz, die bessere Abgeschlossenheit gegenüber dem übrigen Haus, die Ofenheizung. Ich glaube es wird Euch gefallen. Wenn Du und der Onkel kommen wolltet - jetzt ist es allerdings noch zu früh im Jahr - wirst Du jedenfalls hier wohnen können (und wohl von dieser Hausfrau nicht so ausgenutzt wie Ottla von der vorigen, mit der wir übrigens in Liebe und Rührung auseinandergingen) - für den Onkel wird sich gewiß auch eine brauchbare Möglichkeit finden und essen werdet Ihr jedenfalls bei uns beide, D. freut sich schon ihre Künste zeugen zu können und die sind wirklich groß. Freilich weiß ich nicht ob der Onkel wird hier soweit von Berlin wohnen wollen, zur Bahn ist es eine Viertelstunde weit und dann ½ Stunde Eisenbahnfahrt zum Potsdamer Platz. Nach Charlottenburg und in diese Gegenden soll bessere Verbindung sein, ich kenne sie noch nicht.

Sehr erfreulich ist mir dass die Prager Butter sich auf 30 - 36 K stellt, erfreulich weil sich doch schon eine ziemliche Angleichung der Preise darin zeigt und man vielleicht bald mit den Buttersendungen wird aufhören können. Hier bekommt man (in unbegrenzten Mengen) gewöhnliche Molkereibutter für 2 M das Pfund (und auch darunter) Teebutter für 2 M 10, 2 M 20. An Qualität steht sie vielleicht der Prager Butter nach, ich weiß nicht, wir haben schon lange keine hiesige, aber entscheidend groß dürfte der Unterschied doch nicht sein. Eier kosten etwa 1 K 50. Mit dem Brief aus Leitmeritz ist nicht viel anzufangen, man erfährt nur dass es der Tante nicht sehr gut geht, dass sie Sorgen hat und wenig Zeit sich mit so abseitigen und fragwürdigen Dingen wie meiner übersiedlung zu befassen. Vielleicht aber war auch die Fragestelltung nicht genau. Wir brauchen keine Wohnung mit Küchenbenützung, vollständig ausreichend und hochzufriedenstellend wären zwei oder besser 3 möblierte möglichst abgeschlossene Zimmer mit elektr. Licht, weder Küche noch Küchenbenützung wäre nötig.

Warum sollten solche 3 Zimmer dort nicht zu haben sein? Es wohnen dort doch genug Pensionäre in hübschen Villen, mit der Zeit verschwindet einer wie es das Schicksal der Pensionäre ist und ein neuer Pensionär kann einziehn. Skalitz 1½ von Leitmeritz entfernt wäre freilich zu weit. Auch scheint die Tante nichts über meine Wirtschaft zu wissen (für eine kleine Stadt ist auch das eine des Besprechens werte Angelegenheit) und dass ich ihr gar keine Arbeit verursachen würde.

Bei Hardt wart Ihr also und der Hauptteil seines Publikums? Hierhatte er mehr Erfolg, ein großer Saal ausverkauft. D. war dort, Hardt hatte mir aus Prag telegraphiert, jemand von uns mußte hingehn.

Die Wollweste erwarte ich mit Freude, aber dringend ist sie gar nicht, ich habe ja ein Pelzweste, mach sie nur ganz ruhig, jeden Tag drei Maschen. Und wenn das Fräulein paar Maschen als Gruß hineinwebt ist es mir auch sehr recht. Wie geht es dem Fräulein?

Herzlichste Grüße allen.

Euer F


Ehe ich die Lebensbestätigung von der Polizei hole, warte ich noch auf Euere Nachricht, ob das Geld von der Anstalt gekommen ist. Meine Hausfrau heißt Frau Dr Busse, es ist nicht unbedingt nötig ihren Namen zu erwähnen, wenn aber, dann Dr Busse.




Brief, 1 Doppelblatt, 22 x 14,2 cm, vier Seiten mit Tinte beschrieben.

Undatiert; Zuordnung aus dem Inhalt bestimmt ("Seit Samstag sind wir in der neuen Wohnung"). Kafka zog am Freitag nachmittag, am 1. Februar 1924, um (vgl. Nr. 13), der Brief wurde also in der darauffolgenden Woche geschrieben.


1] des Onkels: Vgl. Nr. 9, Anm.6.


2] Übersiedlung: Vgl. Nr. 13, Anm.10 und die Stelle in dem Brief an den Rezitator Ludwig Hardt, wo Kafka sich entschuldigt, weil er dessen Vorstellung nicht besuchen könne: "Nicht nur, weil ich heute nachmittag übersiedelt bin mit dem ganzen Krimskrams der mächtigen Wirtschaft, die ich führe (die Übersiedlung war noch einfach genug dank der Hilfe der freundlichen Überbringerin Frl. R. F.), sondern vor allem deshalb weil ich krank bin..." (Br, 476)


3] Wenn Du und der Onkel kommen wolltet: Vgl. Nr. 3, Anm. 7.


4] auseinandergingen: Die folgenden zwei Worte durch Streichung unleserlich.


5] Leitmeritz: In dieser Zeit seiner zunehmend schlimmer werdenden Krankheit und in seiner elenden finanziellen Situation suchte Kafka nach einem anderen Aufenthaltsort. Als eine Möglichkeit kam offensichtlich Leitmeritz (Litoměřice) in Betracht, wo seine Tante Karolina wohnte, die Frau des früh, bereits 1886, verstorbenen Heinrich Kafka, die mit Siegmund Kohn eine neue Ehe eingegangen war. Kafka mochte sie sehr gern und hatte sie öfter besucht, z. B. wenn er dort am Bezirksgericht zu tun hatte. (Weitere, detailliertere Angaben siehe in dem Artikel von Anthony D. Northey, Kafkas Leitmeritzer Verwandte, in: Germanic Notes, 1975, S. 62-63.) Über einen dieser Besuche schreibt er Felice Bauer in einem Brief vom 9./10. Dezember 1912: "Schließlich ist die ganze Reise zu einem Verwandtenbesuch - ich habe in Leitmeritz Verwandte - zusammengeschrumpft, denn die Verhandlung, bei welcher ich die Anstalt vertreten sollte, ist vor 3 Tagen auf unbestimmte Zeit verlegt worden, ohne dass - infolge eines Irrtums der Gerichtskanzlei - unsere Anstalt verständigt worden wäre . . . Dann bin ich endlich um 8 Uhr morgens vor dem Geschäft meiner Verwandten in der Langen Gasse in Leitmeritz und genieße in dem noch aus der Kindheit her bekannten Kontor meines Onkels (eigentlich eines Stiefonkels, falls es etwas derartiges geben sollte) die Frische und unverdiente Überlegenheit, die von einem Reisenden ausgeht, der zu jemandem kommt, der eben erst aus dem Bett gekrochen ist und in Filzpantoffeln im kaum geöffneten kalten Laden vergebens sich zu erwärmen sucht. Dann kam die Tante (um genau zu sein, die Frau meines schon vor vielen Jahren verstorbenen wahren Onkels, die nach dessen Tode den Geschäftsführer, eben diesen Stiefonkel, geheiratet hat) eine jetzt kränkliche, aber noch immer sehr lebendige, kleine, runde, schreiende, händereibende, mir seit jeher angenehme Person." (F, 170-171)


6] Skalitz: (Skalice), ein Dorf 3 km nordöstlich von Leitmeritz (Litoměřice); zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte es 58 Häuser und 260 Einwohner.


7] Hardt: Ludwig Hardt (1886-1947), Rezitator, "bewunderungswürdig in vielem, sehr liebenswert in manchem" (Br, 360). Kafka war mit ihm im Oktober 1921 in Prag zusammengetroffen (Br, 358-360) und hatte ihm Hebels Schatzkästlein geschenkt (BH I, 557). Anfang Februar 1924 schreibt er aus Berlin zweimal an ihn, nachdem er von ihm ein Telegramm aus Prag erhalten hat: Er entschuldigt sich bei ihm, weil er aus Krankheitsgründen nicht zu seiner Berliner Vorstellung kommen könne, an der statt seiner Dora Diamant teilnehmen werde, und lädt ihn zu sich nach Zehlendorf ein (Br, 476-477). Hardt schrieb am Ende seines Lebens, im Jahre 1947, eine Erinnerung an Kafka.


8] Die Wollweste: Vgl. Nr. 13, 18 und 19.


9] das Fräulein: Vgl. Nr. 3, Anm. 9.


10] von der Anstalt: Vgl. Nr.13 und dazu Anm. 7.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at