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[An Ottla Kafka]

[Berlin-Steglitz: 4. Oktoberwoche 1923]
 


Liebe Ottla, sehr schade dass ich diesmal am 28ten nicht in Prag bin, ich hatte große Pläne, nicht kleinliche Seidenpapierpackungen u. dgl. wie sonst, sondern etwas ganz großes, offenbar schon unter dem Einfluß des Berliner Geschmackes, so etwa wie die jetzige große Revue heißt: "Europa spricht davon". Es hätte eine Nachbildung des Schelesner Bades werden sollen, das Dich so gefreut hat. Ich hätte einfach mein Zimmer ausgeräumt, ein großes Reservoir dort aufstellen und mit saurer Milch füllen lassen, das wäre das Bassin gewesen, über die Milch hingestreut hätte ich Gurkenschnitten. Nach der Zahl Deiner Jahre (die ich mir hätte sagen lassen müssen, ich kann sie mir nicht merken, für mich wirst Du nicht älter) hätte ich ringsherum Kabinen aufgestellt, aufgebaut aus Chokoladeplatten (Da sich Pepa meist an der übernahme der Geburtstagsgeschenke beteiligt, wäre dadurch auch

meine alte Chokoladeschuld an ihn abgezahlt gewesen, falls es nicht schon früher und einigemal geschehen sein sollte) Die Kabinen wären mit den besten Sachen von Lippert gefüllt gewesen, jede mit etwas anderem. Oben an der Zimmerdecke, schief in der Ecke, hätte ich eine riesige Strahlensonne aufgehängt, zusammengesetzt aus Olmützer Quargeln. Es wäre bezaubernd gewesen, man wäre gar nicht imstande gewesen, den Anblick lange auszuhalten. Und wieviel Einfälle hätte ich sonst noch beim Aufbau mit dem Fräulein gehabt!

Nun, daraus wird also nichts, die ganze Pracht schrumpft in einen Geburtstagskuß zusammen, sei er desto fester, es ist ja auch mehr als es sonst bei Prager Geburtstagen gegeben hat.

Was Deine Reise betrifft, so kann ich mir vorstellen, dass es in vielfacher Hinsicht ein schwerer Entschluß ist. Wenn ich mir nur die Aufschriften im Prager Tagblatt vorstelle! Wäre ich damals nicht weggefahren, jetzt gewiß nicht. Ja, bin ich denn überhaupt weggefahren? Wie ich vor den Aufschriften gezittert habe und wie ich jetzt noch zittere tagtäglich fast, wenn ich auf dem Steglitzer Rathausplatz die ersten Seiten der ausgehängten Blätter in den Zeitungsfilialen überfliege (die Zeitung kaufe ich mir als Landbewohner nur Sonntag). Und dabei ist alles buchstäblich wahr im allgemeinen, aber im besonderen doch nicht und darauf kommt es an, möge es so bleiben, auch das kann sich natürlich plötzlich ändern, aber wo denn nicht in der weiten Welt?

Da mir Max die Wintersachen bringt, kannst Du ja den Termin der Reise, wenn sie überhaupt ohne Störung der Familie möglich wird, ganz nach den sonstigen Verhältnissen bequem bestimmen.

Das Verzeichnis der Sachen, die ich brauchen könnte, schließe ich gleich hier an, gib es bitte der Mutter und dem Fräulein, ich will es nicht direkt an die Eltern schicken, der Vater hätte nicht den richtigen Sinn dafür, also etwa:

3 weiche Hemden, 2 lange Unterhosen, 3 gewöhnliche Socken, 1 P. warme Socken, 1 Frottierhandtuch, 2 dünne Handtücher, 1 Leintuch (es genügt so ein leichtes, wie ich es mithabe) 2 Deckenüberzüge, 1 Kissenüberzug, 2 Nachthemden.

Das wäre die Wäsche. An Kleidern:

Den starken Mantel, einen Anzug (etwa den schwarzen, dessen dünneren Bruder ich mithabe) und irgendeine Hose, die ich zuhause tragen kann. Dann vielleicht den Schlafrock und mit noch größerem "vielleicht" den alten blauen Raglan, aus dem ich mir hier einen Hausrock machen lassen könnte. (Dieser Mantel hat sich ja als ziemlich unverkäuflich erwiesen und es ist lästig, zuhause immer im Straßenrock zu sein). Sollte ich später einmal bei offenem Fenster auf dem Kanapee liegen - ich werde es ja höchstwahrscheinlich nicht tun - oder auf dem Balkon, der mir hier auch zur Verfügung steht, käme noch der Fußsack, Pulswärmer und die Mütze in Betracht, diese Sachen hätten aber, selbst wenn man sich entschließt sie zu schicken, e r s t   f ü r   s p ä t e r h i n   Z e i t, es würde ja eine ganz ungeheuerliche Sendung.

Irgendwelche Handschuhe für den Tag könnte man vielleicht auch beipacken, dann 1 Bügel fürs Kleid und 2 Bügel für die Mäntel.

Nun das wäre also alles, ein großer Haufen, in welchen Koffer wird man es packen?

Und nun noch ein besonders schweres Gepäckstück, der Besuch beim Direktor. Willst Du ihn wirklich machen? Ich werde darauf noch zurückkommen, vielleicht hast auch Du Einfälle dazu, heute mache ich nur einen Entwurf (Das Geld ist doch aus der Anstalt gekommen? die Mutter hat mir darauf nicht geantwortet): Es wäre zu erzählen dass ich vorigen Herbst und Winter an Lungenfieber und Magen- und Darmkrämpfen krank war, fast immer lag, sehr herunterkam. Gegen das Frühjahr zu wurde die Lunge besser, der Gesamtzustand aber viel schlechter, denn es begann eine oft ganz unerträgliche Schlaflosigkeit mit den abscheulichsten Kopfzuständen bei Tage, die mich zu allem unfähig machten, insbesondere auch zu einem Besuch in der Anstalt. Ich sah, dass, wenn ich irgendwie weiterleben wollte, ich etwas ganz Radikales tun müßte und wollte nach Palästina fahren. Ich wäre ja dazu gewiß nicht imstande gewesen, bin auch

ziemlich unvorbereitet in hebräischer und anderer Hinsicht, aber irgendeine Hoffnung mußte ich mir machen. (Hinsichtlich Palästinas wäre hinzuzufügen, dass es auch wegen der Lunge gewählt war und auch wegen der verhältnismäßig billigen Lebenshaltungskosten dort, da ich bei Freunden gelebt hätte. Von Billigkeit und Kosten wäre überhaupt der Wahrheit gemäß öfters zu reden) Dann kam mit meiner Schwester Hilfe Müritz und die Aussicht auf Berlin als Zwischenstation, Vorbereitungsmöglichkeit für Palästina. Ich versuchte es mit Berlin (auch hier Freunde erwähnen, und Lebenshaltungskosten) und es geht erträglich vorläufig. Lobe nicht übermäßig! Nun habe ich Furcht, dass, wenn ich längere Zeit hierbleibe, irgendwelche Abzüge an den 1000 K gemacht werden, dies würde mir dann die Berliner Möglichkeit nehmen (und damit eigentlich jede Möglichkeit) denn die Teuerung hier ist groß, in manchem fast größer als in Prag und ich brauche wegen meiner Krankheit mehr als ein anderer. Das Ziel bleibt für mich, einmal die Pension ganz entbehren zu können, für absehbare Zeit bin ich aber ganz abhängig von ihr. (Ein gefährliches Kapitel übrigens, da es beinhaltet, dass ich nicht mehr zurückkomme, sehr zart, nur im Fluge zu berühren) Das scheint mir vorläufig alles, bis auf die selbstverständlichen Erklärungen der Dankbarkeit und Freundschaft. Arme Ottla, schwere Aufgaben, aber für eine Mutter zweier Kinder wird es vielleicht auch zu bewältigen sein. (Gut wäre es vielleicht etwas über meine Beschäftigung hier zu sagen, das werde ich mir noch überlegen, Du könntest ja auch sagen, dass Du darüber nichts weißt.)

Gern hätte ich schließlich paar kleine Geschichten über Věra, Helene (es ist leicht hinzuschreiben, dass Vera mich nichtvergißt, aber wer kann mir Sicherheit geben?). Dann auch sonst über die Familie und besonders über das Fräulein. Aber natürlich nicht wie in Deinem Letzten Brief, mitten in der Nacht. Wie es jetzt auch fast bei mir geworden ist. Leb wohl!

F


Und grüß Pepa!




dass ich diesmal am 28ten nicht in Prag bin: Ottlas 31. Geburtstag fiel erst auf den folgenden Tag. Auch sonst irrt sich Kafka gelegentlich im Datum.


Lippert: damals ein feines Delikatessengeschäft am Graben in Prag.


Olmützer Quargeln: ein Sauermilchkäse.


tagtäglich fast: Kafka an Max Brod am 2. X. 1923: "Inzwischen habe ich, was ich bis jetzt schon tagelang vermieden habe, den Steglitzer Anzeiger durdtgesehn. Schlimm, schlimm. Es liegt aber Gerechtigkeit darin, mit dem Schicksal Deutschlands zusammenzuhängen, wie Du und ich." (Br 449 vgl. 451)


den Termin der Reise: Vgl. Nr. 106, 108, 109, 110 und 112.


Es wäre zu erzählen: Zum Folgenden vgl. Nr. 115.


wollte nach Palästina fahren: und zwar im Oktober (vgl. M 268); aber schon im Juli sah er ein: "es wäre keine Palästinafahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eine Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat, und dass die Fahrt mit Ihnen gemacht worden wäre, hätte die geistige Kriminalität des Falles noch sehr erhöht." (Br 437 f.) Das Schreiben ist an die Frau seines Klassenkameraden Hugo Bergmann gerichtet, der in Palästina lebte und im Frühjahr 1923 zu Vorträgen nach Prag gekommen war. Bergmann, der an Kafkas Entschluß maßgebenden Anteil hatte, bot dem Freund an, er könne in seinem Hause in Jerusalem wohnen, vgl. Br 433.


mit meiner Schwester Hilfe: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 112.


die Pension: Kafka wurde mit Wirkung vom 1. Juli 1922 pensioniert, weil keine Aussicht mehr auf Besserung seines Lungenleidens bestand.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at