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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, sehr schade dass ich diesmal am 28ten nicht
in Prag bin, ich hatte große Pläne, nicht kleinliche Seidenpapierpackungen
u. dgl. wie sonst, sondern etwas ganz großes, offenbar schon unter
dem Einfluß des Berliner Geschmackes, so etwa wie die jetzige große
Revue heißt: "Europa spricht davon". Es hätte eine
Nachbildung des Schelesner Bades werden sollen, das Dich so gefreut hat.
Ich hätte einfach mein Zimmer ausgeräumt, ein großes Reservoir
dort aufstellen und mit saurer Milch füllen lassen, das wäre
das Bassin gewesen, über die Milch hingestreut hätte ich Gurkenschnitten.
Nach der Zahl Deiner Jahre (die ich mir hätte sagen lassen müssen,
ich kann sie mir nicht merken, für mich wirst Du nicht älter)
hätte ich ringsherum Kabinen aufgestellt, aufgebaut aus Chokoladeplatten
(Da sich Pepa meist an der übernahme der Geburtstagsgeschenke beteiligt,
wäre dadurch auch
meine alte Chokoladeschuld an ihn abgezahlt gewesen, falls es nicht schon
früher und einigemal geschehen sein sollte) Die Kabinen wären
mit den besten Sachen von Lippert gefüllt gewesen,
jede mit etwas anderem. Oben an der Zimmerdecke, schief in der Ecke, hätte
ich eine riesige Strahlensonne aufgehängt, zusammengesetzt aus Olmützer Quargeln. Es wäre bezaubernd gewesen,
man wäre gar nicht imstande gewesen, den Anblick lange auszuhalten.
Und wieviel Einfälle hätte ich sonst noch beim Aufbau mit dem
Fräulein gehabt!
Nun, daraus wird also nichts, die ganze Pracht schrumpft in einen Geburtstagskuß
zusammen, sei er desto fester, es ist ja auch mehr als es sonst bei Prager
Geburtstagen gegeben hat.
Was Deine Reise betrifft, so kann ich mir vorstellen, dass es in vielfacher
Hinsicht ein schwerer Entschluß ist. Wenn ich mir nur die Aufschriften
im Prager Tagblatt vorstelle! Wäre ich damals nicht weggefahren, jetzt
gewiß nicht. Ja, bin ich denn überhaupt weggefahren? Wie ich
vor den Aufschriften gezittert habe und wie ich jetzt noch zittere tagtäglich
fast, wenn ich auf dem Steglitzer Rathausplatz die ersten Seiten der
ausgehängten Blätter in den Zeitungsfilialen überfliege
(die Zeitung kaufe ich mir als Landbewohner nur Sonntag). Und dabei ist
alles buchstäblich wahr im allgemeinen, aber im besonderen doch nicht
und darauf kommt es an, möge es so bleiben, auch das kann sich natürlich
plötzlich ändern, aber wo denn nicht in der weiten Welt?
Da mir Max die Wintersachen bringt, kannst Du ja den Termin
der Reise, wenn sie überhaupt ohne Störung der Familie möglich
wird, ganz nach den sonstigen Verhältnissen bequem bestimmen.
Das Verzeichnis der Sachen, die ich brauchen könnte, schließe
ich gleich hier an, gib es bitte der Mutter und dem Fräulein, ich
will es nicht direkt an die Eltern schicken, der Vater hätte nicht
den richtigen Sinn dafür, also etwa:
3 weiche Hemden, 2 lange Unterhosen, 3 gewöhnliche Socken, 1 P. warme
Socken, 1 Frottierhandtuch, 2 dünne Handtücher, 1 Leintuch (es
genügt so ein leichtes, wie ich es mithabe) 2 Deckenüberzüge,
1 Kissenüberzug, 2 Nachthemden.
Das wäre die Wäsche. An Kleidern:
Den starken Mantel, einen Anzug (etwa den schwarzen, dessen dünneren
Bruder ich mithabe) und irgendeine Hose, die ich zuhause tragen kann. Dann
vielleicht den Schlafrock und mit noch größerem "vielleicht"
den alten blauen Raglan, aus dem ich mir hier einen Hausrock machen lassen
könnte. (Dieser Mantel hat sich ja als ziemlich unverkäuflich
erwiesen und es ist lästig, zuhause immer im Straßenrock zu
sein). Sollte ich später einmal bei offenem Fenster auf dem Kanapee
liegen - ich werde es ja höchstwahrscheinlich nicht tun - oder auf
dem Balkon, der mir hier auch zur Verfügung steht, käme noch
der Fußsack, Pulswärmer und die Mütze in Betracht, diese
Sachen hätten aber, selbst wenn man sich entschließt sie zu
schicken, e r s t f ü r s p ä t e r h i n
Z e i t, es würde ja eine ganz ungeheuerliche
Sendung.
Irgendwelche Handschuhe für den Tag könnte man vielleicht auch
beipacken, dann 1 Bügel fürs Kleid und 2 Bügel für
die Mäntel.
Nun das wäre also alles, ein großer Haufen, in welchen Koffer
wird man es packen?
Und nun noch ein besonders schweres Gepäckstück, der Besuch beim
Direktor. Willst Du ihn wirklich machen? Ich werde darauf noch zurückkommen,
vielleicht hast auch Du Einfälle dazu, heute mache ich nur einen Entwurf
(Das Geld ist doch aus der Anstalt gekommen? die Mutter hat mir darauf
nicht geantwortet): Es wäre zu erzählen dass
ich vorigen Herbst und Winter an Lungenfieber und Magen- und Darmkrämpfen
krank war, fast immer lag, sehr herunterkam. Gegen das Frühjahr zu
wurde die Lunge besser, der Gesamtzustand aber viel schlechter, denn es
begann eine oft ganz unerträgliche Schlaflosigkeit mit den abscheulichsten
Kopfzuständen bei Tage, die mich zu allem unfähig machten, insbesondere
auch zu einem Besuch in der Anstalt. Ich sah, dass, wenn ich irgendwie
weiterleben wollte, ich etwas ganz Radikales tun müßte und wollte nach Palästina fahren. Ich wäre ja dazu
gewiß nicht imstande gewesen, bin auch
ziemlich unvorbereitet in hebräischer und anderer Hinsicht, aber irgendeine
Hoffnung mußte ich mir machen. (Hinsichtlich Palästinas wäre
hinzuzufügen, dass es auch wegen der Lunge gewählt war und
auch wegen der verhältnismäßig billigen Lebenshaltungskosten
dort, da ich bei Freunden gelebt hätte. Von Billigkeit und Kosten
wäre überhaupt der Wahrheit gemäß öfters zu reden)
Dann kam mit meiner Schwester Hilfe Müritz und die
Aussicht auf Berlin als Zwischenstation, Vorbereitungsmöglichkeit
für Palästina. Ich versuchte es mit Berlin (auch hier Freunde
erwähnen, und Lebenshaltungskosten) und es geht erträglich vorläufig.
Lobe nicht übermäßig! Nun habe ich Furcht, dass, wenn
ich längere Zeit hierbleibe, irgendwelche Abzüge an den 1000
K gemacht werden, dies würde mir dann die Berliner Möglichkeit
nehmen (und damit eigentlich jede Möglichkeit) denn die Teuerung hier
ist groß, in manchem fast größer als in Prag und ich brauche
wegen meiner Krankheit mehr als ein anderer. Das Ziel bleibt für mich,
einmal die Pension ganz entbehren zu können, für
absehbare Zeit bin ich aber ganz abhängig von ihr. (Ein gefährliches
Kapitel übrigens, da es beinhaltet, dass ich nicht mehr zurückkomme,
sehr zart, nur im Fluge zu berühren) Das scheint mir vorläufig
alles, bis auf die selbstverständlichen Erklärungen der Dankbarkeit
und Freundschaft. Arme Ottla, schwere Aufgaben, aber für eine Mutter
zweier Kinder wird es vielleicht auch zu bewältigen sein. (Gut wäre
es vielleicht etwas über meine Beschäftigung hier zu sagen, das
werde ich mir noch überlegen, Du könntest ja auch sagen, dass
Du darüber nichts weißt.)
Gern hätte ich schließlich paar kleine Geschichten über
Věra, Helene (es ist leicht hinzuschreiben, dass Vera mich nichtvergißt,
aber wer kann mir Sicherheit geben?). Dann auch sonst über die Familie
und besonders über das Fräulein. Aber natürlich nicht wie
in Deinem Letzten Brief, mitten in der Nacht. Wie es jetzt auch fast bei
mir geworden ist. Leb wohl!
F
Und grüß Pepa!
dass ich diesmal am 28ten nicht in Prag bin:
Ottlas 31. Geburtstag fiel erst auf den folgenden Tag. Auch sonst irrt
sich Kafka gelegentlich im Datum.
Lippert: damals ein feines Delikatessengeschäft
am Graben in Prag.
Olmützer Quargeln: ein Sauermilchkäse.
tagtäglich fast: Kafka an Max Brod am 2. X.
1923: "Inzwischen habe ich, was ich bis jetzt schon tagelang vermieden
habe, den Steglitzer Anzeiger durdtgesehn. Schlimm, schlimm. Es liegt aber
Gerechtigkeit darin, mit dem Schicksal Deutschlands zusammenzuhängen,
wie Du und ich." (Br 449 vgl. 451)
den Termin der Reise: Vgl. Nr. 106, 108, 109, 110
und 112.
Es wäre zu erzählen: Zum Folgenden vgl.
Nr. 115.
wollte nach Palästina fahren: und zwar im Oktober
(vgl. M 268); aber schon im Juli sah er ein: "es wäre keine
Palästinafahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eine
Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat, und dass
die Fahrt mit Ihnen gemacht worden wäre, hätte die geistige Kriminalität
des Falles noch sehr erhöht." (Br 437 f.) Das Schreiben ist
an die Frau seines Klassenkameraden Hugo Bergmann gerichtet, der in Palästina
lebte und im Frühjahr 1923 zu Vorträgen nach Prag gekommen war.
Bergmann, der an Kafkas Entschluß maßgebenden Anteil hatte,
bot dem Freund an, er könne in seinem Hause in Jerusalem wohnen, vgl.
Br 433.
mit meiner Schwester Hilfe: Vgl. die Anmerkungen
zu Nr. 112.
die Pension: Kafka wurde mit Wirkung vom 1. Juli
1922 pensioniert, weil keine Aussicht mehr auf Besserung seines Lungenleidens
bestand.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at