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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, kein "intimer Brief", nur ein Ansatz zu ihm, und
nach einer ein wenig unruhigen Nacht:
Ob Du mich stören würdest, darüber müssen wir nicht
sprechen. Wenn mich alles in der Welt stören würde - fast ist
es so weit -, Du nicht. Und außer der Freude Dich hier zu haben,
wäre mir dadurch vielleicht eine Reise erspart.
Das bist also Du. über Dich hinaus aber, das muß ich sagen fürchte
ich mich sehr. Dazu ist es viel zu früh, dazu bin ich nicht fest genug
hier eingerichtet, dazu schwanken mir die Nächte zu viel. Du verstehst
es gewiß: das hat nichts mit Liebhaben, nichts mit Willkommensein
zu tun, - nicht in dem der kommt liegt der Grund dafür, sondern in
dem der empfängt. Diese ganze Berliner Sache ist ein so zartes Ding,
ist mit letzter Kraft erhascht und hat wohl davon eine große Empfindlichkeit
behalten. Du weißt, in welchem Tone man manchmal, offenbar unter
dem Einfluß des Vaters, von meinen Angelegenheiten spricht. Es ist
nichts Böses darin, sondern eher Mitgefühl, Verständnis,
Pädagogik u. dgl., es ist nichts Böses, aber es ist Prag, wie
ich es nicht nur liebe, sondern auch fürchte. Eine derartige noch
so gutmütige, noch so freundschaftliche Beurteilung unmittelbar zu
sehen und zu hören, wäre mir wie eine Herüberlangen Prags
hierher nach Berlin, würde mir leid tun und die Nächte
stören. Sag mir bitte dass Du das genau mit allen seinen
traurigen Feinheiten verstehst.
Ich weiß nun nicht ob Du wirst kommen können, aber ich weiß
auch nicht, ob nicht vielleicht ich für paar Tage nach Prag fahren
soll. Entscheide Du und rate mir. Ich will, wenn es nur
irgendwie möglich ist, den Winter über in Berlin bleiben. Da
sollte ich doch vielleicht vorher, jetzt solange noch erträgliches
Wetter ist, nach Prag fahren, die Eltern sehn, mich richtig verabschieden,
zur Vermietung meines Zimmers raten u. dgl. außerdem müßte
ich mir verschiedene Wintersachen holen (Mantel, Kleid,
etwas Wäsche, Schlafrock, vielleicht Fußsack), die mir auf andere
Weise zu schicken oder zu bringen, viel Umstände machen würde.
Schließlich müßte ich eigentlich endlich auch mit dem
Direktor sprechen, eine Sache allerdings, die ich, wenn Du Dich dazu drängen
würdest, ohne Bedauern Dir überlassen würde.
Jedenfalls wollte ich, wenn ich fahre, etwa am 20. wieder hier sein.
So, nun habe ich meine Sorgen auf Dich überwälzt. Vielleicht
werde ich dadurch wieder so frei und so schön müde, wie gestern,
wo ich zwar wie täglich nach 7 Uhr aufstand aber um 9 vor Müdigkeit
guter Müdigkeit, ganz ohne Fieber, es nicht aushielt, mich ins Bett
legte, wie Helene halb im Schlaf das Gabelfrühstück
und das Mittagessen fletscherte und gegen 5 Uhr sehr mühselig
nur deshalb aufstand, weil ein Besuch kommen sollte. Abend kam dann neben
Deiner Karte eine Karte der Mutter, in welcher angezeigt war, dass
Klopstock, der arme liebe unglückliche (augenblicklich
wieder sehr unglückliche) Junge, ohne mir vorher davon zu schreiben,
heute erschreckend hierherkommen soll. Nun vielleicht kommt er doch nicht;
wenn man ihm doch nur äußerlich ein wenig helfen könnte,
er hat kein Zimmer, sein Freitisch ist gefährdet, seine Hand verletzt,
eine schwere Prüfung steht ihm bevor, Geld hat er wahrscheinlich auch
keines und das alles ist für ihn ein Grundeine Besuchsfahrt nach Berlin
zu machen. Nun, er wird wohl nicht kommen. Freilich, Prag ist auch nicht
gut für ihn, aber die Studiermöglichkeiten in Berlin sind für
ihn noch schwieriger als dort. Hier solltest Du eigentlich auch raten,
große Mutter. - Lebwohl, grüß Pepa, die Kinder und Fini.
Aussprüche der Věra? Fortschritte der Helene?
Nun habe ich, in lauter schwierigen Dingen befangen, vergessen Dir für
die Butter zu danken. Mittwoch kam sie, vielleicht also doch noch das erste
Päckchen? Sie ist ausgezeichnet.
Datierung: Aus einer am 8. Oktober 1923 geschriebenen und an diesem Tag
abgestempelten Karte, die Kafka an Max Brod richtete, geht hervor, dass
er am Tag zuvor von Ernst Weiß (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 21) besucht
wurde (vgl. Br 449). Da Nr. 109 inhaltlich zwischen 108 und 110 gehört,
also zwischen dem 2. und 13. Oktober geschrieben sein muß, und zwar
etwa in der Mitte, weil zwischen den einzelnen Schreiben Kafkas jeweils
zwei Postwege zwischen Berlin und Schelesen liegen, muß es sich um
den Besuch von Weiß am 7. Oktober handeln.
die Nächte stören: Kafka an Max Brod am
16. X. 1923: "Schlimmer ist allerdings, dass in der allerletzten
Zeit die Nachtgespenster mich aufgespürt haben, aber auch das ist
kein Grund zur Rückfahrt; soll ich ihnen erliegen, dann lieber hier
als dort, doch ist es noch nicht so weit." (Br 451, vgl. M 270)
rate mir: Ottla sprach sich gegen diesen Plan aus,
Kafka änderte seine Meinung und wollte höchstens zum Jahresende
nach Prag fahren. (Vgl. Nr. 109 und Br 415) Auch die Mutter riet ab. (Br
455)
verschiedene Wintersachen holen: Sie wurden dann
von Max Brod November überbracht. (Vgl. 114, Br 451, 455 und 465)
Dir überlassen: Vgl. Nr. 115.
Helene: Ottlas zweite Tochter.
fletschern: Besonders gründliches Kauen (nach
dem amerikanischen Gesundheitsprediger Horace Fletcher; vgl. F 671).
Klopstock: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 91, Br 445,
447 und 452. Seit dem Sommersemester 1922 studierte Robert Klopstock in
Prag Medizin.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at