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[An Ottla Kafka: Postkarte]

[Stempel: Berlin-Steglitz - 26. 9. 23]


Der intime Brief ist vorläufig nicht nötig, er wäre auch nicht schlimm geworden, nur eine Bitte um Rat und dgl., aber meine Beschäftigung während des größten Teiles der Reise war er. Ich war freilich auch ein wenig stumpfsinnig, denn die Nacht vorher war eine der allerschlimmsten gewesen, etwa dreiteilig zuerst ein überfall durch alle ängste, die ich habe, und so groß wie diese ist kein Heer der Weltgeschichte, dann stand ich auf, weckte das arme gute Fräulein (das wegen der Schienenlegung der Elektrischen in meinem Zimmer schlief, müde, nach schrecklich umständlichem Kofferpacken) und holte mir Foligan aß es gierig und dämmerte dann eine Viertelstunde, dann aber war es zuende und ich beschäftigte mich den Rest der Nacht mit der Koncipierung des Absagetelegrammes an den Vermieter nach Berlin und mit der Verzweiflung darüber. Aber früh (dank Dir und Schelesen) fiel ich nicht um, als ich aufstand und fuhr weg, vom Fräulein getröstet, von Pepa geängstigt, vom Vater liebend gezankt, von der Mutter traurig angeschaut.

Wie geht es dem Fräulein Ella Proch.? In Beřkowitz war ich gekränkt, dass Du die Kinder und Fini nicht auf der Bahn waren.




Nach Schelesen adressiert.


die Nacht vorher: Am 24. September 1923 fuhr Kafka nach Berlin, wo er mit Dora Dymant, die er im Juli im Ostseebad Müritz kennengelernt hatte, ein neues Leben beginnen wollte. Innerhalb seiner Verhältnisse schien ihm das "eine Tollkühnheit, für welche man etwas Vergleichbares nur finden kann, wenn man in der Geschichte zurückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Rußland". (Br 447) Vgl. auch Nr. 105 und M 269.


von Pepa geängstigt: Josef David war, nach seinem Sommerurlaub, wieder nach Prag zurückgekehrt (vgl. Nr. 101 und 103), während Ottla noch bis Mitte Oktober in Schelesen blieb (vgl. Nr. 107, 110 und 111).


Ella Proch. : Gemeint ist die in Nr. 106 genannte Ella Prochaska.


Beřkowitz: Der Ort liegt nur etwa 45 Gehminuten von Schelesen entfernt.


die Kinder: Ottlas zweite Tochter Helene wurde am 10. Mai 1923 geboren.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at