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[An Ottla Kafka: Postkarte]
Der intime Brief ist vorläufig nicht nötig, er wäre auch
nicht schlimm geworden, nur eine Bitte um Rat und dgl., aber meine Beschäftigung
während des größten Teiles der Reise war er. Ich war freilich
auch ein wenig stumpfsinnig, denn die Nacht vorher war
eine der allerschlimmsten gewesen, etwa dreiteilig zuerst ein überfall
durch alle ängste, die ich habe, und so groß wie diese ist kein
Heer der Weltgeschichte, dann stand ich auf, weckte das arme gute Fräulein
(das wegen der Schienenlegung der Elektrischen in meinem Zimmer schlief,
müde, nach schrecklich umständlichem Kofferpacken) und holte
mir Foligan aß es gierig und dämmerte dann eine Viertelstunde,
dann aber war es zuende und ich beschäftigte mich den Rest der Nacht
mit der Koncipierung des Absagetelegrammes an den Vermieter nach Berlin
und mit der Verzweiflung darüber. Aber früh (dank Dir und Schelesen)
fiel ich nicht um, als ich aufstand und fuhr weg, vom Fräulein getröstet,
von Pepa geängstigt, vom Vater liebend gezankt, von
der Mutter traurig angeschaut.
Wie geht es dem Fräulein Ella Proch.? In Beřkowitz
war ich gekränkt, dass Du die Kinder und Fini
nicht auf der Bahn waren.
Nach Schelesen adressiert.
die Nacht vorher: Am 24. September 1923 fuhr Kafka
nach Berlin, wo er mit Dora Dymant, die er im Juli im Ostseebad Müritz
kennengelernt hatte, ein neues Leben beginnen wollte. Innerhalb seiner
Verhältnisse schien ihm das "eine Tollkühnheit, für
welche man etwas Vergleichbares nur finden kann, wenn man in der Geschichte
zurückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Rußland".
(Br 447) Vgl. auch Nr. 105 und M 269.
von Pepa geängstigt: Josef David war, nach
seinem Sommerurlaub, wieder nach Prag zurückgekehrt (vgl. Nr. 101
und 103), während Ottla noch bis Mitte Oktober in Schelesen blieb
(vgl. Nr. 107, 110 und 111).
Ella Proch. : Gemeint ist die in Nr. 106 genannte
Ella Prochaska.
Beřkowitz: Der Ort liegt nur etwa 45 Gehminuten
von Schelesen entfernt.
die Kinder: Ottlas zweite Tochter Helene wurde am
10. Mai 1923 geboren.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at