Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, Januar/Februar 1923]
 


Liebe Frau Milena, ich glaube, es ist besser, von der Rückendeckung und was mit ihr zusammenhängt, nicht viel zu sprechen, so etwa wie vom Hochverrat in Kriegszeiten. Es sind doch Dinge, die man nicht ganz verstehen, die man besten Falls nur erraten kann, Dinge, hinsichtlich derer man nur "Volk" ist. Man hat Einfluß auf die Ereignisse, denn ohne Volk ist kein Krieg zu führen und man nimmt daraus das Recht mitzusprechen, aber wirklich beurteilt und entschieden werden die Dinge doch nur in der unabsehbaren Hierarchie der Instanzen. Und wenn man wirklich die Ereignisse einmal durch sein Wort beeinflußt, so wird daraus nur Schaden entstehen, denn diese Worte sind ja unsachverständig, unbeherrscht wie im Schlafe hingesprochen und die Welt ist voll von Spionen, welche horchen. Am besten ist in dieser Hinsicht ein ruhiges, würdiges, gegenüber Provokationen unberührbares Wesen. Und Provokation ist ja hier alles, selbst das Gras, in das Sie sich setzen an dem langen Kanal (Gänzlich unverantwortlicherweise übrigens zu einer Zeit, da ich mich beim geheizten Ofen im Bett unter dem Thermophor, zwei Decken und dem Federbett zu verkühlen glaube). Schließlich hat man nur ein Urteil darüber, wie der äußere Anschein auf die Welt wirkt und da bin ich mit der Krankheit gegenüber Ihren, wenn man will, schrecklichen Spaziergängen im Vorteil. Denn wenn ich von der Krankheit in jenem Sinne spreche, so glaubt mir doch im Grunde niemand und es ist ja auch tatsächlich nur Spaß.

Donadieu werde ich sehr bald zu lesen anfangen, doch sollte ich es Ihnen vielleicht vorher schicken, ich weiß, was eine solche Sehnsucht bedeutet und dem, der einem ein solches Buch vorenthält, trägt man es dann nach. Ich war z. B. gegen einige Leute voreingenommen, weil ich, ohne es beweisen zu können, bei jedem von ihnen jenen "Nachsommer" vermutete und der Sohn von Oskar Baum ist aus einer Waldschule bei Frankfurt vor allem deshalb eiligst nachhause zurückgekommen, weil er seine Bücher nicht dort hatte, besonders sein Lieblingsbuch "Lange Latte und Genossen" von Kipling, das er, ich glaube, schon 75 mal gelesen hat. Wenn es sich also ähnlich mit der Donadieu verhält, schicke ich sie, aber ich würde sie gern lesen.

Hätte ich die Feuilletons, würde ich, vielleicht, die Modeaufsätze (wo blieben sie diesen Sonntag?) nicht lesen; wenn Sie mir immer das Datum angeben würden, würden Sie mich sehr erfreuen. Den "Teufel" hole ich mir (. . .) [ ca. 9 eingeklammerte Wörter unleserlich gemacht] wenn ich ausgehn kann, vorläufig habe ich noch etwas Schmerzen.

Georg Kaiser - ich kenne wenig von ihm und hatte keine Lust nach mehr, auf der Bühne habe ich allerdings noch nichts gesehn. Großen Eindruck hat vor zwei Jahren sein Proceß auf mich gemacht, ich las die Berichte in der Tatra, besonders die große Verteidigungsrede, in welcher er sein Recht, fremde Sachen wegzunehmen, für unzweifelhaft erklärte, seine Stellung in der deutschen Geschichte mit jener Luthers verglich und für den Fall seiner Verurteilung verlangte, dass die Fahnen in Deutschland auf Halbmast gehißt werden. Hier bei meinem Bett erzählte er hauptsächlich von seinem Ältesten (er hat 3 Kinder) einem zehnjährigen Jungen, den er nicht in die Schule gehen läßt, aber auch nicht unterrichtet, der also auch noch nicht lesen und schreiben kann, wohl aber schön zeichnen und sich den ganzen Tag im Wald und auf dem See (sie wohnen in einem einsamen Landhaus in Grünhalde bei Berlin) herumzutreiben. Als ich Kaiser beim Abschied sagte: "Jedenfalls ist das ein großes Unternehmen" sagte er: "Es ist auch das Einzige, das andere ist ja ziemlich schmarrenhaft. " Merkwürdig und nicht ganz angenehm ihn so vor sich zu sehn, halb ein Berliner Kaufmann, fahrig-fröhlich, halb ein Verrückter. Er scheint nicht ganz durchschüttert, aber zum Teil allzu stark, ihn haben ja auch nur die Tropen angeblich (er war als junger Mann in Südamerika angestellt, kam krank zurück, lag an 8 Jahre untätig Zuhause auf dem Kanapee und begann dann in einer Heilanstalt aufzuleben) zerstört, nichts anderes. Es drückt sich auch in seinem Gesicht diese Halbheit aus: ein flaches Gesicht mit erstaunlich leeren hellblauen Augen, die aber wie manches andere in dem Gesicht eiligst hin- und herzucken, während andere Gesichtsteile unbeweglich wie gelähmt sind. Übrigens hat Max einen ganz andern Eindruck von ihm, er hält ihn für aufmunternd und deshalb zwang er wahrscheinlich in seiner Freundlichkeit Kaiser zu mir heraufzukommen. Und nun nimmt er gar noch den ganzen Brief ein. Ich wollte noch einiges sagen. Nächstens.




1] Donadieu: Charles Louis Philippes Roman. Vgl. Brief vom [19.Juli 1920] Montag, Anm. 2.


2] "Teufel": Vgl. 2. Brief vom [Januar/Februar 1923], Anm. 1.


3] Georg Kaiser: Der Dramatiker Georg Kaiser (1878-1945), über dessen Verurteilung Milena geschrieben hatte: Vgl. A. X. Nessey, "Případ Jřího Kaisera" [Der Fall Georg Kaiser] in der "Tribuna", III. Jg., Nr. 52 (3. 3. 1921), S. 1 f. Kaiser besuchte den kranken Kafka in seiner Wohnung in Prag.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at