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[An die Eltern]

[Berlin-Steglitz, 20. November 1923]
 


12) Dienstag) Liebste Eltern, diesmal war es eine besondere Freude, Euere beiden Briefe und vor allem des l.[ieben] Vaters Mitteilung über seine Gesundheit. Schade, dass ich nicht genug Marken habe um Euch ausführlich zu antworten, vielleicht nächstens. Ab 1. kommt übrigens der wertbeständige Tarif, dann wird man keine Markensorgen mehr haben, allerdings wird es dann so teuer sein, dass man aus dem Grund nicht wird schreiben können. - Die Wohnung ist so schön, dass ich fürchte, ich werde sie aus dem oder jenem Grunde bald verlieren. Freilich teuer ist sie. - Das Paket ist heute angekommen, morgen werde ich es mir holen lassen.Hat es viel gekostet? - Bei den gegenwärtigen Verhältnissen ist es am besten Kc zu schicken, keinesfalls Dollars. Warum denn? Dann würde man ja bei dem zweimaligen Wechseln nur Geld verlieren. - Päckchen X ist noch nicht gekommen, es geschieht mir ganz recht, am Anfang des Monats, als ich Butter-Überfülle hatte, habe ich auf Butter statt auf Margarine kochen lassen. Übrigens habe ich gestern recht gute Butter zu kaufen bekommen. - Deine Frage lieber Vater, ob ich hier "für später eine Zukunft habe", ist sehr heikel. Für die Möglichkeit eines Geldverdienens besteht bis jetzt nicht die leiseste Andeutung für mich. Freilich behandle ich mich hier wie einen Kranken im Sanatorium. Freilich kann ich auch nicht gut in der Stadt wohnen, besonders jetzt da ich durch Steglitzer Luft verwöhnt bin und täglich bei jedem Wetter hineinfahren könnte ich auch nicht gut. Ich habe früher einmal eine Wohnung in der Stadt nehmen sollen, aber schließlich trat ich zurück.




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstské náměstí č 6/III, Tschechoslowakei. Von Kafka mit der Ziffer 12 versehen. Frankierung 36 Milliarden M. Über der Adresse der Zusatz 20/11 1923, offensichtlich von der Hand der Mutter.

Undatiert; Zuordnung anhand von Kafkas Angabe des Wochentages Dienstag und des Poststempels: 20. 11.23, bestimmt.




1] der wertbeständige Tarif: Am 1. Dezember 1923 wurden in Deutschland Briefmarken ohne Währungsbezeichnung ausgegeben (sie waren bis 31. Januar 1928 gültig).


2] aus dem oder jenem Grunde bald verlieren: Vgl. Nr.3, Anm. 6. Der fast übereinstimmende Text in dem Brief an Milena "aus der zweiten Novemberhälfte 1923" (M, 320) ermöglicht die Datierung des Briefes an Milena nahe dem 20. November.


3] Geld verlieren: Vgl. Nr. 2, Anm. 2-3.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at