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[Berlin-Steglitz, 19. Oktober 1923]

Freitag


Liebste Eltern, eben bekomme ich Eueren lieben Brief vom 18. mit 50 K. Es scheint also diesmal wirklich einmal ein Brief verloren gegangen nämlich der von Samstag, das "ausführliche Schreiben", wie Ihr es nennt. Schade, Schade. Was stand denn alles darin? War vielleicht auch Geld darin? Du nummerierst diesen Brief mit 3., so dass man annehmen könnte, es wäre Geld darin gewesen, aus dem Inhalt aber dieses letzten Briefes scheint hervorzugehn, dass kein Geld drin war, denn Ihr verwieset mich ja darin an Frau Gross. Ich wiederhole aus meiner gestrigen Karte, dass ich die 1000 K von Frau Gross erhalten halten [sic], mit den heutigen 50 K leide ich jetzt geradezu an Geldüberfülle und ernstlich erwäge ich, ob ich nicht vielleicht einmal ins Kino gehn sollte. Vorläufig beschränke ich mich aber auf die Ernährung und sage Euch ins Ohr, dass ich z.B. heute Taube zu Mittag hatte. Meine Kost ist jedenfalls viel besser als die im Sanatorium der Frau Gross, die übrigens sehr nett zu mir war.
Herzliche Grüße Euch und allen

F


Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse des Empfängers: Hermann Kafka, Prag, Staromestské námestí 6/III, Tschechoslowakei, und des Absenders: Dr Kafka bei Moritz Hermann, Berlin Steglitz, Miquelstraße 8. Frankierung abgelöst. Neben dem Poststempel der Zusatz Berlin-Steglitz, offenbar von der Hand der Mutter.

Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel: 19.10.; er stimmt mit Kafkas Angabe des Wochentages Freitag überein.
1] Brief verloren gegangen: D.h. vom 13.Oktober 1923.
2] Geld: Kafka hatte Mitte Oktober 1923 in Berlin finanzielle Schwierigkeiten. Drei Tage vor diesem Brief schreibt er an Ottla: ". . . bitte veranlasse, dass mir Geld geschickt wird, ich hatte nicht viel mit, die Mutter hatte damals keines, konnte mir nicht für Oktober vorausgeben, ich wußte ja auch nicht, wie lange ich bleibe, aber sie versprach mir vom 1. Oktober ab in jedem Brief kleinere Beträge zu schicken. Nun habe ich schon öfters darum gebeten, aber es kommt nichts, heute ist der 16te und ich habe für diesen Monat erst 70 K im Ganzen bekommen; sollte das Geld aus der Anstalt nicht gekommen sein oder sollte ein Geldbrief doch verloren gegangen sein? Oder will man mich auf diese Weise zum Geldverdienen erziehn..." (O, 140-141)
3] Frau Gross: Erscheint in Kafkas Schriften und in der Kafka-Literatur hier zum erstenmal. Zeit seines Aufenthaltes in Berlin, nachweislich im Oktober und November des Jahres 1923, erhielt er von ihr und von ihrem Mann mehrmals Geld (vgl. auch Nr. 8). Er ließ sich damals über seine Eltern die Pension von der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt nach Berlin senden. Die Gründe dafür erläuterte er später in dem Brief an Direktor Dr. Bedrich Odstrcil vom 20. Dezember 1923 (der originale tschechische Wortlaut abgedruckt in L, 80-81, deutsch schon früher in HE, 647-649, später in einer abweichenden Übersetzung von Binder und Wagenbach in O, 149-151, schließlich tschechisch und deutsch in FKAS, 317-321): "Ich bitte höflich... um die Zustimmung der Anstalt zu meinem hiesigen Aufenthalt und erlaube mir die weitere Bitte hinzuzufügen, meine Pensionsbezüge weiterhin an die Adresse meiner Eltern zu überweisen . . . möchte ich bemerken, dass jede andere Art von Überweisung mich finanziell schädigen würde, und bei der Bescheidenheit meiner Mittel wäre der geringste Geldverlust sehr spürbar für mich. Schaden würde ich bei einer anderen Art der Überweisung deshalb erleiden, weil sie entweder in Mark (dann würde ich den Kursverlust und die Auslagen tragen) oder in tschechischen Kronen (dann würden mich noch größere Auslagen treffen) durchgeführt würde, während sich meinen Eltern immer irgendeine Möglichkeit bieten wird, mir das Geld kostenlos und gelegentlich gleich für zwei Monate mit irgendeinem Bekannten zu schikken, der nach Deutschland kommt. Bei der Überweisung des Geldes an meine Eltern fallen natürlich nicht eventuell erforderliche Lebensbescheinigungen weg, über deren Form und zeitliche Termine ich höflich um Information bitte und die ich von hier direkt an die Anstalt senden würde." - Die Annahme ist begründet, dass das Ehepaar Gross - z. B. neben Lise Kaznelson (vgl. Nr. 9, Anm. 7) - zu den Vermittlern gehörte, die Kafka die Pension aushändigten, im gegebenen Falle "die 1000 K". Kafka erwähnt selbst, dass er "1000 K Pension" hat (vgl. Nr. 3); das ist ein Betrag, der der Summe entspricht, welche er von Frau Gross erhalten hatte. Laut Dekret vom 30.6.1922, lfd. Nr. 446/1922, betrug Kafkas Pension ab 1.7.1922 genau 1044 Kc --> monatlich (12528 Kc --> jährlich), und sie wurde ihm "vermittels des Scheckamtes in monatlichen, zuvor fälligen Fristen" ausgezahlt (das Konzept des Dekrets aufbewahrt im LA PNP, FK, Kart.Nr. 2).
4] Sanatorium der Frau Gross: Es konnte nicht festgestellt werden, ob Frau Gross in Berlin ein Sanatorium hatte; Anfragen bei kompetenten Stellen blieben ergebnislos. Es ist möglich, dass Kafka die Bezeichnung "Sanatorium" im scherzhaften Sinne verwendete. Interessant ist, dass ein gewisser Hermann Gross, Bankbeamter, in Berlin-Steglitz in Kafkas unmittelbarer Nachbarschaft, in der Miquelstraße 10, gewohnt hat.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at