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An Tile Rössler

[Müritz, Stempel: 3.VIII. 1923]

Meine liebe Tile, die Post hat Deine Briefe verwirrt, der zweite kam Mittag, der erste nachher am Abend, den Abendbrief bekam ich am Strand, Dora war dabei, wir hatten gerade ein wenig Hebräisch gelesen, es war der erste sonnige Nachmittag seit langer Zeit und wohl für lange Zeit, die Kinder lärmten, ich konnte nicht in meinen Strandkorb gehn, weil dort der Schwager eine vom Fußballspiel verletzte Zehe behandelte, so stand ich also und las Deinen Brief, während Felix über mich hinweg, um mich herum, durch mich hindurch mit Steinen einen Pfahl zu treffen versuchte, der hinter mir stand. Und doch hatte ich Ruhe Deinen Brief zu lesen, mich zu freuen, dass Dir nach uns bange ist, aber auch froh zu sein, dass Du, wenigstens nach meinem augenblicklichen Gefühl, durch das Wegfahren bei weitem nicht so viel verloren hast, als Du glaubst. Es gefällt mir nicht mehr so gut hier wie früher; ich weiß nicht ganz genau, ob daran nur meine persönliche Müdigkeit, die Schlaflosigkeit und die Kopfschmerzen schuld sind, aber warum war das alles früher geringer? Vielleicht darf ich nicht zu lange an einem Ort bleiben; es gibt Menschen, die sich ein Heimatgefühl nur erwerben können, wenn sie reisen. Es ist ja äußerlich alles, wie es war, alle Menschen im Heim sind mir sehr lieb, viel lieber, als ich es ihnen zu zeigen imstande bin, und besonders Dora, mit der ich am meisten beisammen bin, ist ein wunderbares Wesen, aber das Heim als solches ist mir nicht mehr so klar wie früher, eine sichtbare Kleinigkeit hat es mir ein wenig beschädigt, andere unsichtbare Kleinigkeiten arbeiten daran, es weiter zu beschädigen, als Gast, als Fremder, als ein müder Gast überdies, habe ich keine Möglichkeit zu sprechen, mir Klarheit zu verschaffen, und so falle ich ab, bis jetzt war ich an jedem Abend dort, aber heute, trotzdem es der Freitagabend ist, werde ich, wie ich fürchte, nicht hingehn.

So bin ich gar nicht sehr unzufrieden damit, dass meine Schwester (ihr Mann ist sie abholen gekommen) nicht erst am 10., sondern schon ein paar Tage früher wegfährt, und ich werde, weil es bequemer und billiger ist, und vor allem deshalb, weil ich allein hier nicht bleiben will, mit ihnen fahren. In Berlin werde ich, wenn ich nicht gar zu müde bin, ein oder zwei Tage bleiben und dann sehe ich Dich gewiß, aber auch wenn ich nicht bliebe, sondern gleich nach Marienbad zu meinen Eltern weiterfahren würde (um dann für einen Tag auch nach Karlsbad zu fahren und statt Tile leider nur den Herrn Chef zu sehn), sehen wir einander bald, denn ich hoffe bald wieder nach Berlin zu kommen.

Letzthin hatte ich Besuch hier, eine gute Freundin, die Palästinenserin, von der ich Dir erzählte. Sie kam gleichzeitig mit Frieda Behr, die sie von früher her kannte, und wohnte im Heim. Der Besuch ging schnell vorüber, sie war kaum einen Tag hier, aber von ihrer Selbstsicherheit, ihrer ruhigen Fröhlichkeit blieb eine Aufmunterung zurück. Du mußt sie einmal in Berlin kennen lernen.

Es ist sehr hübsch, dass Du "Schaale" schreibst, so wie man, glaube ich, "Frage" im Jargon schreibt. Ja, die Schale soll auch eine Frage an Dich sein, nämlich diese: "Du, Tile, wann zerschlägst Du mich endlich"

Um die Vase, die ich von Dir habe, muß ich manchmal mit Christl kämpfen, der dreijährigen Tochter unseres Wirts, einer jener kleinen, blonden, weißhäutigen, rotwangigen Blumen, wie sie hier in allen Häusern wachsen. Wann sie zu mir kommt, immer will sie sie haben. Unter dem Vorwand, ein Vogelnest auf meinem Balkon ansehn zu wollen, drängt sie sich ein, kaum aber ist sie beim Tisch, streckt sie schon die Hand nach der Vase; sie macht nicht viele Umstände, erklärt nicht viel, wiederholt nur immer streng: die Vase! die Vase!, und besteht auf ihrem guten Recht, denn da ihr die Welt gehört, warum nicht auch die Vase? Und die Vase fürchtet sich wohl vor der grausamen Kinderhand, aber sie muß sich nicht fürchten, ich werde sie immer verteidigen und niemals hergeben.

Grüß bitte alle meine Freunde vom Heim, besonders Bine, der ich schon längst geschrieben hätte, wenn ich nicht den Ehrgeiz hätte, ihr für ihr schönes Hebräisch auch mit Hebräisch, allerdings einem weniger schönen zu danken, und wenn ich in der Unruhe, in der ich jetzt bin, die Sammlung für die hebräische Kraftanstrengung gefunden hätte.

Auch alle meine Verwandten lassen Dich vielmals grüßen, besonders die Kinder. Als Dein Mittagsbrief kam, entstand ein großer Streit zwischen Felix und Gerti, wer Deinen Brief früher lesen dürfe. Es war schwer zu entscheiden, für Felix sprach sein Alter und die Tatsache, dass er den Brief vom Briefträger gebracht hatte, Gerti führte für sich an, dass sie mit Dir noch besser befreundet gewesen sei als Felix. Leider entschied die Gewalt und Gerti ließ auf die ihr eigentümliche großartige Weise die Unterlippe hängen. - Hast Du schon Grieg gehört? Das ist eigentlich die letzte ganz deutliche Erinnerung, die ich an Dich habe; wie Klavier gespielt wird, und Du ein wenig gebeugt, ein wenig verregnet dastehst und Dich vor der Musik demütigst. Mögest Du dieser Haltung immer fähig bleiben! Lebe recht wohl!

Dein K.
 


Und die Stimme? Der Arzt? - Meine Adresse in Prag, wohin ich allerdings erst in etwa 14 Tagen kommen werde, ist Altstädter Ring No. 6 III Stock.




Tile Rössler: Kafka lernte das sechzehnjährige Mädchen in der Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes in Müritz kennen. - Über Dora (Diamant) vergleiche die Biographie. - Tile Rössler, jetzt eine der führenden Choreographinnen in Tel Aviv, bewahrt außer diesem Brief noch zwei schriftliche Erinnerungen von Kafkas Hand auf. Auf ein Schokoladenpaket, das er ihr sandte, schrieb der Dichter: "Nicht so süß, nicht so verführerisch wie M., aber anspruchsloser, fester und nahrhafter." (M. ist die Abkürzung für Moissi), und zu einem Pappkarton mit Konfekt: "Nicht ihrer Güte wegen schicke ich Dir die Bonbons, sie sind wohl nicht viel wert, aber es sind Zauberbonbons, Du maßt sie gar flicht anrühren, bleib ruhig auf dem Kanapee, leg die offene Schachtel neben Dich und, so weit es auch von Steglitz ist, ich werde Dir doch Stück für Stück in den Mund stecken, so als säße ich neben Dir. Versuch es!" - Diese merkwürdige Beziehung wurde mit poetischer Lizenz von Martha Hoffmann in der Erzählung "Dina und der Dichter" (Tel Aviv, 1943 ) geschildert.
Quelle: Franz Kafka: Briefe 1902 - 1924. Hrsg. von Max Brod. Die Erstausgabe dieses Bandes erschien 1958 innerhalb der "Gesammelten Werke".


Tile (Tilla) Rössler (1907 - 1959) stammte aus Polen und war mit ihrer Familie bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Berlin gezogen. Wohl schon 1925 begann sie an der gerade gegründeten Palucca-Schule in Dresden (an der sie später auch unterrichtete) modernen Tanz zu studieren.
Quelle: Martha Hofmann, "Dinah und der Dichter. Franz Kafkas Briefwechsel mit einer Sechzehnjährigen". In: Die österreichische Furche 10, 1954. 30. Beilage: Die Warte. Blätter für Forschung, Kunst und Wissenschaft (24. Juli 1954). [unpag.]
Aus: "Als Kafka mir entgegenkam". Erinnerungen an Franz Kafka. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main, 2000




Die Anschrift des Briefes lautete nach Martha Hofmann: "Dinah und der Dichter. Franz Kafkas Briefwechsel mit einer Sechzehnjährigen"

An Fräulein Dinah S. Berlin C 2,
Buchladen Jurovics.

Ostseebad Müritz, 3. August 1923

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at