Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[Berlin-Steglitz, 22 bis 24.10.23; Ankunftstempel; Praha-Hrad, 25.10.23]

[An: ] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante Tschechoslowakei

[Abs.: ] Dr Kafka bei Moritz Hermann Berlin-Steglitz Miquelstraße 8


Lieber Max, es ist wahr, ich schreibe nichts, aber nicht deshalb, weil ich etwas zu verbergen hätte (soweit das nicht mein Lebensberuf ist) und noch viel weniger deshalb, weil ich nicht nach einer vertrauten Stunde mir Dir verlangen würde, einer Stunde, wie wir sie, so scheint es mir manchmal, seit den oberitalienischen Seen nicht mehr gehabt haben. (Es hat einen gewissen Sinn das zu sagen, weil wir damals jene, der Sehnsucht vielleicht gar nicht werte, aber wirklich unschuldige Unschuld hatten und die bösen Mächte, in gutem oder schlimmem Auftrag, erst die Eingänge leicht betasteten, durch die sie einmal einzubrechen sich schon unerträglich freuten.) Wenn ich also nicht schreibe, so hat das vor allem, wie es bei mir in den letzten Jahren immer zum Gesetz wird, "strategische" Gründe, ich vertraue Worten und Briefen nicht, meinen Worten und Briefen nicht, ich will mein Herz mit Menschen, aber nicht mit Gespenstern teilen, welche mit den Worten spielen und die Briefe mit hängender Zunge lesen. Besonders Briefen vertraue ich nicht und es ist ein sonderbarer Glaube, dass es genügt, den Briefumschlag zuzukleben, um den Brief gesichert vor den Adressaten zu bringen. Hier hat übrigens die Briefcensur der Kriegszeit, die Zeit besonderer Kühnheit und ironischer Offenheit der Gespenster, lehrreich gewirkt.

    Aber ich schreibe auch deshalb wenig (noch etwas vergaß ich zum Vorigen zu sagen: manchmal scheint mir überhaupt das Wesen der Kunst, das Dasein der Kunst allein aus solchen "strategischen Rücksichten" erklärbar, die Ermöglichung eines wahren Wortes von Mensch zu Mensch), weil ich ja, wie es natürlich ist, mein Prager Leben, meine Prager "Arbeite, von der auch nur sehr wenig zu sagen war, fortsetze. Du mußt auch bedenken, dass ich hier halb-ländlich lebe, weder unter dem grausamen, noch aber auch unter dem pädagogischen Druck des eigentlichen Berlin. Das ist auch verwöhnend. Ich war einmal mit Dir bei Josty, einmal bei Emmy, einmal bei Pua, einmal bei Wertheim, um mich photographieren zu lassen, einmal um mir Geld zu holen, einmal um mir eine Wohnung anzusehn - das sind gewiß alle meine Ausflüge nach Berlin in diesen 4 Wochen gewesen und von fast allen kam ich elend zurück und tief dankbar, dass ich in Steglitz wohne. Mein "Potsdamer Platz" ist der Steglitzer Rathausplatz, dort fahren 2 oder 3 Elektrische, dort vollzieht sich ein kleiner Verkehr, dort sind die Filialen von Ullstein, Mosse und Scherl, und aus den ersten Zeitungsseiten, die dort aushängen, sauge ich das Gift, das ich knapp noch ertrage, manchmal (gerade wird im Vorzimmer von Straßenkämpfen gesprochen) augenblicksweise auch nicht ertrage -, aber dann verlasse ich diese Öffentlichkeit und verliere mich, wenn ich noch die Kraft dazu habe, in den stillen herbstlichen Alleen. Meine Straße ist die letzte annähernd städtische, dann löst sich alles in den Frieden von Gärten und Villen auf, jede Straße ist ein friedlicher Gartenspazierweg oder kann es sein.

    Mein Tag ist ja auch sehr kurz, ich stehe zwar gegen 9 Uhr auf, aber liege viel, besonders nachmittag, ich brauche das sehr. Ein wenig lese ich hebräisch, in der Hauptsache einen Roman von Brenner, aber es wird mir sehr schwer, doch ist trotz aller Schwierigkeit das Lesen von bisher 30 Seiten keine Leistung, mit der man sich rechtfertigen kann, wenn für 4 Wochen Rechenschaft gefordert wird. Dienstag. Als Roman freut mich übrigens das Buch nicht sehr. Ich hatte vor Brenner seit jeher Ehrfurcht, ich weiß nicht genau warum, Gehörtes und Phantasiertes mischten sich darin, immer wurde von seiner Trauer gesprochen. Und "Trauer in Palästina"? -

__________


    Sprechen wir lieber von der Berliner Trauer, weil sie näher ist. Eben unterbricht mich das Telephon, Emmy. Sie hätte schon Sonntag kommen sollen, schade dass sie nicht kam, es war auch sonst Besuch da, der sie zerstreut hätte, eine kleine Müritzer Bekannte und ein junger Berliner Maler, zwei schöne junge Menschen von gefangen-nehmendem Liebreiz, ich hatte viel davon für Emmy gehofft, die jetzt so tief in den Aufregungen des Tages und in jenen der Liebe ist. (Glaube übrigens nicht, dass ich Gesellschaften gebe, es ergab sich zufällig und einmal, ich fürchte mich vor Menschen genau so wie in Prag.) Aber sie kam nicht, war verkühlt. Dann sprachen wir gestern telephonisch miteinander, sie war aufgeregt, Berliner Aufregungen (Furcht vor Generalstreik, Schwierigkeiten des Geldwechselns, die aber gerade nur beim Zoo und vielleicht nur gestern zu bestehen schienen, heute z. B. wurde am Bahnhof Friedrichstraße ohne jedes Gedränge gewechselt), Berliner Aufregungen mischten sich finit Prager Leiden (ich konnte nur sagen: Max schreibt etwas vom neunten) und die Berliner sind hier wirklich ansteckend, ich hatte nach dem Telephongespräch noch in der Nacht mit ihnen zu kämpfen. Jedenfalls versprach sie aber heute abend zu kommen und ich hoffte inzwischen tröstende Kraft angesammelt zu haben, aber nun telephoniert sie, dass sie nicht kommen kann, gibt Gründe für ihre Aufregung an, es ist aber offenbar nur einer, die andern lagern sich nur als Verzierung herum, das Datum Deiner Reise. Die Hochzeit wird als Verhinderungsgrund nicht anerkannt, "soll er zur Abwechslung auch einmal andern die Herzeis brechen". Ähnliches glaube ich auch schon in Prag bei ähnlichen Gelegenheiten gehört zu haben. Armer, lieber Max! Glücklich-unglücklicher! Wenn Du mir irgendeinen Rat geben zu können glaubst, was ich bei E. nützen kann, ich werde es gewiß tun, ich selbst weiß augenblicklich nichts. Ich fragte, ob ich morgen zu ihr kommen könnte, sie sagte, sie wisse nicht, wann sie Zuhause sein werde (alles sehr freundlich und aufrichtig), früh nehme sie eine Stunde, nachmittag sei sie bei einer Freundin, "die auch verrückt ist" (sie hatte mir schon von ihr erzählt), schließlich einigten wir uns darauf, morgen wieder telephonisch miteinander zu sprechen. Das ist alles, wenig und viel.


Mittwoch. Eben um 9 Uhr habe ich wieder mit E. gesprochen, es scheint viel besser zu stehn, das heutige telephonische Abendgespräch mit Dir wirft seinen Trost voraus. Wahrscheinlich kommt sie heute abend. Neues telephonisches Gespräch, neue Änderung. E. läßt sagen, dass sie schon mittag kommt. Immer denke ich daran, wie die Liebe und die Musik E. erhöht aber gelöst haben muß, dass sie, die früher in einem harten Leben höchst tapfer gelebt hat, jetzt in einem trotz aller Berliner Schrecken äußerlich doch viel leichteren Leben unter dem Äußerlichen so sehr leidet. Ich für meinen Teil verstehe dieses letztere sehr gut, viel besser noch als sie, aber ich hätte ja ihr früheres Leben nicht ertragen.

_________


    Noch zu Deinen Fragen: Von dem geringen Hebräischen sprach ich schon. Außerdem wollte ich in die kaum eine ¼ Stunde entfernte berühmte Gärtnerschule in Dahlem gehn, ein Hörer, ein Palästinenser, ein Bekannter von D. (Diamant ist der Name), hat mich aber durch seine Informationen, mit denen er mich aufmuntern wollte, abgeschreckt. Für den praktischen Unterricht bin ich zu schwach, für den teoretischen zu unruhig, auch sind die Tage so kurz und bei schlechtem Wetter kann ich ja nicht ausgehn, so ließ ich es sein.

    Nach Prag wäre ich gewiß gefahren, trotz der Kosten und der Mühe, schon nur um mit Dir beisammenzusein und endlich Felix und Oskar einmal zu sehn (in einem Brief an E. steht ein schrecklicher Satz über Oskar, ist das nur eine stimmungsmäßige Bemerkung oder eine Tatsache?) aber Ottla riet mir ab und schließlich auch die Mutter. Es ist auch besser so, ich wäre dort noch nicht Gast, hoffentlich kann ich so lange fort bleiben, dass ich es werde.

Dein F          


Gib mir einen Rat wegen Deines Bruders Hochzeit. Grüß die Schwester und den Schwager von mir.

Bis November kann ich wegen der Wintersachen gut warten.

Worin bestehen Deine Arbeiten? Der Roman ruht?



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Josty . . . Wertheim: Ein bekanntes Berliner Café und das ebenso bekannte Warenhaus.


Ullstein, Mosse und Scherl: Die damals größten Zeitungs- und Zeitschriften-Konzerne.


Roman von Brenner: Josef Chajim Brenner, Schechól uchischalón (Unfruchtbarkeit und Scheitern oder Buch des Ringens), Tel Aviv 1920. Siehe Kafkas Brief an Klopstock vom 25. Oktober 1923, Br 456.


Müritzer Bekannte: Tile Rössler (siehe Anm.4 oben).


Die Hochzeit: Am 1. November 1923 hat Max Brods Bruder Otto geheiratet.


Der Roman: "Rëubeni".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at