Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[Postkarte. Schelesen. Stempel: Dečin-Praha, 15.9.23; Ankunftstempel; Praha-Hrad, 15.9.23]

[An: ] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante


Liebster Max, "dass äußere Dinge menschliche Beziehungen nicht beeinflussen", so großrednerisch habe ich es wahrhaftig nicht gemeint, trotzdem es mir sonst eine Lust ist, meinen Gegensatz mir zu vergegenwärtigen. Diesmal aber habe ich nicht nur von menschlichen Beziehungen gesprochen, sondern von den stärksten, und nicht von den stärksten äußern Dingen etwa von Schmerzen und Folterungen, sondern nur vom Marksturz, und nicht von einem beliebigen Menschen sondern von Dir und nicht von der Ausschließung von Beeinflussungen, sondern von der Ausschließung des "Ruins". Das alles, Max, laß bitte auch weiter gelten und sei mir nicht böse. Was mich betrifft: eine kleine Gewichtszunahme ist da, äußerlich kaum zu merken, dafür aber jeden Tag irgendein größerer Mangel, es rieselt im Gemäuer, wie Kraus sagt. Erst gestern blieb ein alter Mann vor mir stehn und sagte: "Sie sind wohl nicht recht im Zeug?" Natürlich kamen wir dann auch auf die Juden zu sprechen, er ist Gärtner in einer jüdischen Villa, so weit ganz gute Leute, aber furchtsam wie alle Juden. Furcht ist ihre Natur. Dann ging er um einen zweiten Rückenkorb einer riesigen Menge trockenen Holzes in den Wald und ich begann meinen Puls zu zählen, weit über 110.

Glück zu deiner Arbeit.

F         



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


wie Kraus sagt: Unter dieser berühmt gewordenen Überschrift "Es rieselt im Gemäuer" hatte Karl Kraus - zu einem Zeitpunkt, wo der Krieg offenbar nicht mehr zu gewinnen war - einen Leitartikel in der Neuen Freien Presse glossiert (Die Fackel, Nr.484-498, 15. Oktober 1918, S. 211 f.).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at