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[Postkarte. Stempel: Ostseebad Müritz, 10.7.23; Ankunftstempel: Praha, 12.7.23]

[An: ] Martin Salvat Prag poste-restante Tsechoslowakei

[Abs.: ] Dr Kafka Ostseebad Müritz Hauus Glückauf


Sie ist reizend. Und so ganz und gar auf Dich konzentriert. Es gab keinen Anlaß, aus dem nicht auf Dich Bezug genommen wurde. Ein Ostseezug, vielleicht bist Du darin. Da und dort ist sie mit Dir gewesen. Erst nach einem Weilchen verstehe ich, warum sie sich den Hradschin beschreiben läßt. Betrachtungen wie: "es ist merkwürdig, wie man die Ansichten eines geliebten Menschen übernimmt, auch wenn sie den bisherigen eigenen entgegengesetzt waren" wiederholen sich häufig. Eine wirklich starke Ursprünglichkeit, Geradheit, Ernsthaftigkeit, kindlich liebe Ernsthaftigkeit. Ich fuhr mit ihr zur jüdischen Kinderkolonie der Pua nach Eberswalde, aber Emmys Hausgott siegte und wir blieben in Bernau stecken. Die größte Freude machte ihr dort ein Storchnest, das sie unbegreiflich schnell entdeckte. Sie war sehr gut zu mir. - Hier geht es mir leidlich, wie immer in den ersten Tagen. Eine Kolonie des Jüdischen Volksheims, gesunde, fröhliche blauäugige Kinder, machen mir Freude.

Herzlichen Gruß Dir und der Frau

Franz         



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Pua: Puah Bentovim, die zum Wintersemester 1922-23 aus Palästina nach Prag zum Studium gekommen war, hatte Kafka dort während der ersten Jahreshälfte 1923 im Hebräischen - das sie als Muttersprache voll ständig beherrschte - unterrichtet. Sie war im Juni zum pädagogischen Studium nach Berlin gefahren, wo sie gleichzeitig in einem Heim für jüdische Flüchtlingskinder (das Kinderheim "Ahava", d.i. "Liebe") tätig war, um dort - wie sie schreibt - "als Palästinenserin für Palästina zu begeistern".


Eberswalde: Etwa 40 km nordöstlich von Berlin (Bernau liegt auf halbem Wege dorthin).


des Jüdischen Volksheims: Siehe 1916 Anm.13. In der Müritzer Ferienkolonie lernte Kafka Dora Diamant kennen (siehe seinen Brief an Tile Rössler vom 3. August 1923, Br 439 f.).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at