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[Tagebuch, 20. Januar 1922; Freitag]

20 (Januar 1922) Ein wenig stiller. Wie notwendig war es. Kaum ist es ein wenig stiller, ist es fast zu still. Als bekäme ich das wahre Gefühl meiner Selbst nur wenn ich unerträglich unglücklich bin. Das ist wohl auch richtig.

Beim Kragen gepackt, durch die Straßen gezerrt, in die Tür hineingestoßen. Schematisch ist es so, in Wirklichkeit sind Gegenkräfte da, nur um eine Kleinigkeit - die leben- und qualerhaltende Kleinigkeit - weniger wild als jene. Ich der beiden Opfer.

Dieses "zustill". So als wäre mir - irgendwie körperlich, körperlich als Ergebnis der jahrelangen Qualen (Vertrauen! Vertrauen!) - die Möglichkeit des ruhig schaffenden Lebens verschlossen, also das schaffende Leben überhaupt, denn der Zustand der Qual ist für mich ohne Rest nichts anders als in sich verschlossene, gegen alles verschlossene Qual, nichts darüber hinaus.

Das Torso: seitlich gesehn vom obern Rand des Strumpfes aufwärts Knie, Oberschenkel und Hüfte, einer dunklen Frau gehörig.

Die Sehnsucht nach dem Land? Es ist nicht gewiß. Das Land schlägt die Sehnsucht an, die unendliche.

M. hat hinsichtlich meiner recht: "alles herrlich nur nicht für mich und mit Recht. " Mit Recht sage ich und zeige dass ich wenigstens dieses Vertrauen habe: Oder habe ich nicht einmal das? Denn ich denke nicht eigentlich an "Recht", das Leben hat vor lauter Überzeugungskraft keinen Platz in sich für Recht und Unrecht. So wie Du in der verzweifelten Sterbestunde nicht über Recht und Unrecht meditieren kannst, so nicht im verzweifelten Leben. Es genügt dass die Pfeile genau in die Wunden passen, die sie geschlagen haben.

Dagegen ist von einem allgemeinen Aburteil über die Generation bei mir keine Spur.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at