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[Tagebuch, 18. Januar 1922; Mittwoch]

18. I (1922) Jenes etwas stiller, dafür kommt G. Erlösung oder Verschlimmerung wie man will.

Ein Augenblick Denken: Gib Dich zufrieden, lerne (lerne 40jähriger) im Augenblick zu ruhn (doch, einmal konntest Du es). Ja im Augenblick, dem schrecklichen. Er ist nicht schrecklich, nur die Furcht vor der Zukunft macht ihn schrecklich. Und der Rückblick freilich auch. Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan? Es ist mißlungen, wird man schließlich sagen, das wird alles sein. Aber es hätte leicht gelingen können. Freilich eine Kleinigkeit und nicht einmal erkennbar, so klein ist sie, hat es entschieden. Was findest Du daran? Bei den größten Schlachten der Weltgeschichte ist es so gewesen. Die Kleinigkeiten entscheiden über die Kleinigkeiten

M. hat recht: die Furcht ist das Unglück, deshalb aber ist nicht Mut das Glück, sondern Furchtlosigkeit, nicht Mut, der vielleicht mehr will als die Kraft (in meiner Klasse waren wohl nur 2 Juden, die Mut hatten und beide haben sich noch während des Gymnasiums oder kurz darauf erschossen), also nicht Mut, sondern Furchtlosigkeit, ruhende, offen blickende, alles ertragende. Zwinge Dich zu nichts, aber sei nicht unglücklich darüber, dass Du Dich nicht zwingst oder darüber, dass Du, wenn Du es tun solltest, Dich zwingen müßtest. Und wenn Du Dich nicht zwingst, umlaufe nicht immerfort lüstern die Möglichkeiten des Zwanges. Freilich so klar ist es niemals oder doch, so klar ist es immer z. B.: das G. drängt mich, quält mich Tag und Nacht, ich müßte Furcht und Scham und wohl auch Trauer überwinden um ihm zu genügen, andererseits ist es aber gewiß, dass ich eine schnell und nah und willig sich darbietende Gelegenheit sofort ohne Furcht und Trauer und Scham benützen würde; dann bleibt nach dem obigen doch Gesetz, die Furcht u. s. w. nicht zu überwinden, (aber auch nicht mit dem Gedanken der Überwindung zu spielen) wohl aber die Gelegenheit benutzen (aber nicht zu klagen, wenn sie nicht kommt) Freilich es gibt ein Mittelding zwischen der "Tat" und der "Gelegenheit" nämlich das Herbeiführen, Herbeilocken der "Gelegenheit", eine Praxis, die ich nicht nur hier sondern überall leider befolgt habe. Aus dem "Gesetz" ist kaum etwas dagegen zu sagen, trotzdem dieses "Herbeilocken" besonders wenn es mit untauglichen Mitteln geschieht bedenklich ähnlich sieht dem "Spielen mit dem Gedanken der Überwindung" und von ruhender, offenblickender Furchtlosigkeit ist darin keine Spur. Es ist eben trotz "wörtlicher" Übereinstimmung mit dem "Gesetz" etwas Abscheuliches und unbedingt zu Vermeidendes. Freilich Zwang gehört dazu es zu vermeiden und zu einem Ende komme ich damit nicht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at