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An Milena Jesenská
Liebe Frau Milena,
das muß ich gestehn, dass ich einmal jemanden sehr beneidet
habe, weil er geliebt war, in guter Hut, behütet von Verstand und
Kraft, und friedlich unter Blumen lag. Ich bin mit dem Neid immer bei der
Hand.
Aus der Tribuna, die ich nicht immer aber einigemal las, glaubte ich schließen
zu dürfen, dass Sie den Sommer gut verbracht haben. Einmal bekam
ich die Tribuna in Planá auf dem Bahnhof, eine Sommerfrisch ler-Frau
sprach mit andern, und hielt die Revue am Rücken, gerade mir entgegen,
die Schwester bat sie dann für mich aus. Sie hatten, wenn ich nicht
irre, einen sehr lustigen Aufsatz dort, gegen die deutschen Bäder.
Einmal schrieben Sie über das Glück des eisenbahnabgelegenen
Sommerlebens, auch das war schön; oder war es der gleiche Aufsatz
damals? Ich glaube nicht. Großartig überlegen, wie immer, wenn
Sie in den Národni Listy auftreten und die Juden (-Moden)Schule
hinter sich lassen, war der Aufsatz über die Auslagen. Dann haben
Sie den Aufsatz über die Köche übersetzt,
warum? Merkwürdig ist die Tante, einmal schreibt
sie darüber dass man die Briefe richtig frankieren soll, dann
darüber dass man nichts aus dem Fenster hinauswerfen soll, lauter
unanfechtbare Dinge und doch aussichtslose Kämpfe, aber manchmal unterläuft
ihr, wenn man sehr acht gibt, doch etwas Liebes, Rührendes und Gutes,
nur die Deutschen sollte sie nicht gar so sehr hassen,
die Deutschen sind wunderbar und bleiben es. Kennen Sie von Eichendorff
das Gedicht: " O Täler weit, 'o Höhen! oder von Justinus
Kerner das Gedicht von der Säge? Wenn Sie sie nicht kennen, werde
ich sie Ihnen einmal abschreiben.
Von Plana wäre einiges zu erzählen aber nun ist es schon vorüber.
Ottla war sehr lieb zu mir, trotzdem sie ja außer mir noch ein Kind
hat. Meine Lunge war, zumindest draußen, leidlich, hier, wo ich schon
14 Tage bin, war ich noch nicht beim Doktor. Schlimm kann es aber nicht
allzusehr sein, wenn ich z. B. draußen - heilige Eitelkeit! - eine
Stunde lang und mehr Holz hacken konnte ohne müde zu werden und dabei
glücklich war, augenblicksweise. Anderes, Schlaf und das zugehörige
Wachen, waren schlimmer, manchmal. Und Ihre Lunge, dieses stolze, starke,
gequälte, unerschütterliche Wesen?
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Eben bekam ich von Ihrem Freund Mareš den beiliegenden
reizenden Brief. Vor paar Monaten fragte er mich auf der Gasse, wie wir
ja überhaupt nur eine Gassenbekanntschaft haben, in einer plötzlichen
Aufwallung, ob er mir seine Bücher schicken dürfe; ich, in Rührung,
bat darum. Nächsten Tag kam sein Gedichtbuch mit
schöner Widmung: "dlouholetámu příteli"
["seinem langjährigen Freunde"] aber paar Tage später
ein zweites Buch mit einem Posterlegschein. Ich tat das Leichteste, dankte
weder, noch zahlte ich (das zweite Buch Policejní štára
ist übrigens sehr gut, wollen Sie es?) und jetzt kommt diese allerdings
unwiderstehliche Einladung. Ich schicke ihm das Geld mit einer kleinen
Zuschrift auf dem Erlegschein, von der ich hoffe, dass Sie ihn bewegen
wird, mir den doppelten Betrag zurückzuschikken.
In das Bild gehört ein Kater? Warum denn? Ein Spahn im Kopf genügt.
Ihr K
1] Aufsatz über die Köche: Milenas Übersetzung
von Paul Wieglers "Köche" (Kuchaři] in "Národní
listy", 62. Jg., Nr. 234 (27. 8. 1922), S. 1 f.; Erstabdruck in P.
Wiegler, "Figuren" (Berlin: Hyperion Verlag, 1916), S. 64.
2] die Tante: Růžena Jesenská.
Vgl. Brief vom [4. Juli 1920] Sonntag, Anm. 3. - Kafka bezieht sich hier
auf eine Reihe ihrer Zeitungsbeiträge, darunter "Poznámky
k dopisům" [Notizen zu Briefen], in "Národní
listy", 62. Jg., Nr. 220 (13. 8. 1922), S. 1 und "Drobnosti"
[Kleinigkeiten] in "Národní listy", Nr. 227 (20.
8. 1920), S. 1.
3] die Deutschen . . . nicht gar so sehr hassen:
Růžena Jesenská hatte sich schon in vergangenen Jahren
sehr kritisch über die Deutschen geäußert, so z. B. in
einem Beitrag "Nepřátelství" [Feindschaft]
in "Národní listy" 61. Jg., Nr. 29 (30. 1. 1921),
S. 2. Darin heißt es u. a.: "Die Feindschaft der Deutschen
gegen die Slawen und gegen Frankreich hat ihre Ursache im Neid, in der
Gier nach Allherrschaft, nach hemmungslosen Forderungen egoistischer Natur.
Und so kam es zum schrecklichen Krieg. " - Kafka bezieht sich hier
aber wahrscheinlich auf ihren Artikel "O poslušnosti"
[Über den Gehorsam] in "Národní listy",
62. Jg., Nr. 192 (16. 7. 1922), S. 1 f. Darin zitiert sie u. a. den "Saazer
Anzeiger", der sich gegen die "Vertschechisierung unserer deutschen
Heimat" ausgesprochen hatte. Dazu schreibt sie: "Man kann der
deutschen Überheblichkeit und Raubgier nicht dadurch begegnen, dass
wir unsere Kinder zu weniger Gehorsam erziehen, sondern im Gegenteil zu
mehr Gehorsam des Blutes, zur großen Liebe gegenüber der Heimat,
der Nation . . . " Anschuldigungen solcher Art bewogen Kafka offenbar
dazu, Gedichte Eichendorffs und Kerners anzuführen als Ausdruck einer
anderen Mentalität der Deutschen als die, welche Růžena
Jesenská geschildert hatte.
4] Eichendorff . . . Justinus Kerner: Joseph von
Eichendorffs 1810 entstandenes Gedicht "Abschied" und Justinus
Kerners 1830 erschienenes Gedicht "Der Wanderer in der Sägemühle".
Eichendorff und Kerner waren - neben Matthias Claudius und Johann Peter
Hebel - die volkstümlichen deutschen Dichter, die Kafka besonders
schätzte.
5] Mareš: Der schon genannte anarchistische
Schriftsteller 306 Michal Mareš. Vgl. Brief vom [13. Juli 1920] Dienstag,
Anm. 5.
6] sein Gedichtbuch: Wahrscheinlich Michal J. Mareš,
"Disharmonie. Básně prosou a veršem." [Disharmonie.
Gedichte in Prosa und Vers] (Praha - Kr. Vyšehrad, o.J.).
7] Policejní štára [Polizeirazzia]:
Titel eines Bandes von Michal Mareš, erschienen 1922 in Prag bei Večernice.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at