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An Milena Jesenská

[Prag, September 1922]
 


Liebe Frau Milena,

das muß ich gestehn, dass ich einmal jemanden sehr beneidet habe, weil er geliebt war, in guter Hut, behütet von Verstand und Kraft, und friedlich unter Blumen lag. Ich bin mit dem Neid immer bei der Hand.

Aus der Tribuna, die ich nicht immer aber einigemal las, glaubte ich schließen zu dürfen, dass Sie den Sommer gut verbracht haben. Einmal bekam ich die Tribuna in Planá auf dem Bahnhof, eine Sommerfrisch ler-Frau sprach mit andern, und hielt die Revue am Rücken, gerade mir entgegen, die Schwester bat sie dann für mich aus. Sie hatten, wenn ich nicht irre, einen sehr lustigen Aufsatz dort, gegen die deutschen Bäder. Einmal schrieben Sie über das Glück des eisenbahnabgelegenen Sommerlebens, auch das war schön; oder war es der gleiche Aufsatz damals? Ich glaube nicht. Großartig überlegen, wie immer, wenn Sie in den Národni Listy auftreten und die Juden (-Moden)Schule hinter sich lassen, war der Aufsatz über die Auslagen. Dann haben Sie den Aufsatz über die Köche übersetzt, warum? Merkwürdig ist die Tante, einmal schreibt sie darüber dass man die Briefe richtig frankieren soll, dann darüber dass man nichts aus dem Fenster hinauswerfen soll, lauter unanfechtbare Dinge und doch aussichtslose Kämpfe, aber manchmal unterläuft ihr, wenn man sehr acht gibt, doch etwas Liebes, Rührendes und Gutes, nur die Deutschen sollte sie nicht gar so sehr hassen, die Deutschen sind wunderbar und bleiben es. Kennen Sie von Eichendorff das Gedicht: " O Täler weit, 'o Höhen! oder von Justinus Kerner das Gedicht von der Säge? Wenn Sie sie nicht kennen, werde ich sie Ihnen einmal abschreiben.

Von Plana wäre einiges zu erzählen aber nun ist es schon vorüber. Ottla war sehr lieb zu mir, trotzdem sie ja außer mir noch ein Kind hat. Meine Lunge war, zumindest draußen, leidlich, hier, wo ich schon 14 Tage bin, war ich noch nicht beim Doktor. Schlimm kann es aber nicht allzusehr sein, wenn ich z. B. draußen - heilige Eitelkeit! - eine Stunde lang und mehr Holz hacken konnte ohne müde zu werden und dabei glücklich war, augenblicksweise. Anderes, Schlaf und das zugehörige Wachen, waren schlimmer, manchmal. Und Ihre Lunge, dieses stolze, starke, gequälte, unerschütterliche Wesen?


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Eben bekam ich von Ihrem Freund Mareš den beiliegenden reizenden Brief. Vor paar Monaten fragte er mich auf der Gasse, wie wir ja überhaupt nur eine Gassenbekanntschaft haben, in einer plötzlichen Aufwallung, ob er mir seine Bücher schicken dürfe; ich, in Rührung, bat darum. Nächsten Tag kam sein Gedichtbuch mit schöner Widmung: "dlouholetámu příteli" ["seinem langjährigen Freunde"] aber paar Tage später ein zweites Buch mit einem Posterlegschein. Ich tat das Leichteste, dankte weder, noch zahlte ich (das zweite Buch Policejní štára ist übrigens sehr gut, wollen Sie es?) und jetzt kommt diese allerdings unwiderstehliche Einladung. Ich schicke ihm das Geld mit einer kleinen Zuschrift auf dem Erlegschein, von der ich hoffe, dass Sie ihn bewegen wird, mir den doppelten Betrag zurückzuschikken.

In das Bild gehört ein Kater? Warum denn? Ein Spahn im Kopf genügt.

Ihr K          




1] Aufsatz über die Köche: Milenas Übersetzung von Paul Wieglers "Köche" (Kuchaři] in "Národní listy", 62. Jg., Nr. 234 (27. 8. 1922), S. 1 f.; Erstabdruck in P. Wiegler, "Figuren" (Berlin: Hyperion Verlag, 1916), S. 64.


2] die Tante: Růžena Jesenská. Vgl. Brief vom [4. Juli 1920] Sonntag, Anm. 3. - Kafka bezieht sich hier auf eine Reihe ihrer Zeitungsbeiträge, darunter "Poznámky k dopisům" [Notizen zu Briefen], in "Národní listy", 62. Jg., Nr. 220 (13. 8. 1922), S. 1 und "Drobnosti" [Kleinigkeiten] in "Národní listy", Nr. 227 (20. 8. 1920), S. 1.


3] die Deutschen . . . nicht gar so sehr hassen: Růžena Jesenská hatte sich schon in vergangenen Jahren sehr kritisch über die Deutschen geäußert, so z. B. in einem Beitrag "Nepřátelství" [Feindschaft] in "Národní listy" 61. Jg., Nr. 29 (30. 1. 1921), S. 2. Darin heißt es u. a.: "Die Feindschaft der Deutschen gegen die Slawen und gegen Frankreich hat ihre Ursache im Neid, in der Gier nach Allherrschaft, nach hemmungslosen Forderungen egoistischer Natur. Und so kam es zum schrecklichen Krieg. " - Kafka bezieht sich hier aber wahrscheinlich auf ihren Artikel "O poslušnosti" [Über den Gehorsam] in "Národní listy", 62. Jg., Nr. 192 (16. 7. 1922), S. 1 f. Darin zitiert sie u. a. den "Saazer Anzeiger", der sich gegen die "Vertschechisierung unserer deutschen Heimat" ausgesprochen hatte. Dazu schreibt sie: "Man kann der deutschen Überheblichkeit und Raubgier nicht dadurch begegnen, dass wir unsere Kinder zu weniger Gehorsam erziehen, sondern im Gegenteil zu mehr Gehorsam des Blutes, zur großen Liebe gegenüber der Heimat, der Nation . . . " Anschuldigungen solcher Art bewogen Kafka offenbar dazu, Gedichte Eichendorffs und Kerners anzuführen als Ausdruck einer anderen Mentalität der Deutschen als die, welche Růžena Jesenská geschildert hatte.


4] Eichendorff . . . Justinus Kerner: Joseph von Eichendorffs 1810 entstandenes Gedicht "Abschied" und Justinus Kerners 1830 erschienenes Gedicht "Der Wanderer in der Sägemühle". Eichendorff und Kerner waren - neben Matthias Claudius und Johann Peter Hebel - die volkstümlichen deutschen Dichter, die Kafka besonders schätzte.


5] Mareš: Der schon genannte anarchistische Schriftsteller 306 Michal Mareš. Vgl. Brief vom [13. Juli 1920] Dienstag, Anm. 5.


6] sein Gedichtbuch: Wahrscheinlich Michal J. Mareš, "Disharmonie. Básně prosou a veršem." [Disharmonie. Gedichte in Prosa und Vers] (Praha - Kr. Vyšehrad, o.J.).


7] Policejní štára [Polizeirazzia]: Titel eines Bandes von Michal Mareš, erschienen 1922 in Prag bei Večernice.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at