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An Milena Jesenská
Nun habe ich Ihnen schon so lange nicht geschrieben Frau Milena, und auch
heute schreibe ich nur infolge eines Zufalls. Entschuldigen müßte
ich mein Nichtschreiben eigentlich nicht, Sie wissen ja, wie ich Briefe
hasse. Alles Unglück meines Lebens - womit ich nicht klagen, sondern
eine allgemein belehrende Feststellung machen will - kommt, wenn man will,
von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen
haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht
fremde, sondern meine eigenen. Es ist in meinem Fall ein besonderes Unglück,
von dem ich nicht weiter reden will, aber gleichzeitig auch ein allgemeines.
Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß - bloß
teoretisch angesehn - eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die
Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht
nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst,
das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt
oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet
und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken,
dass Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man
kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen
fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber
heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie
gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern
werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche
Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt
das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische
zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr,
den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan
erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die
schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und
stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon,
die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden
zugrundegehn.
Ich wundere mich, dass Sie darüber noch nicht geschrieben haben,
nicht etwa, um mit der Veröffentlichung etwas zu verhindern oder zu
erreichen, dazu ist es zu spät, aber um "ihnen" wenigstens
zu zeigen, dass sie erkannt sind.
Man kann "sie" übrigens auch an den Ausnahmen erkennen,
manchmal lassen sie nämlich einen Brief ungehindert durch und er kommt
an wie eine freundliche Hand, leicht und gut legt sie sich in die eigene.
Nun wahrscheinlich ist auch das nur scheinbar und solche Fälle sind
vielleicht die gefährlichsten, vor denen man sich mehr hüten
soll, als vor andern, aber, wenn es eine Täuschung ist, so ist es
doch jedenfalls eine vollkommene.
Etwas ähnliches ist mir heute geschehn und deshalb ist es mir eigentlich
eingefallen, Ihnen zu schreiben. Ich bekam heute von einem Freund, den
auch Sie kennen, einen Brief wir schreiben einander schon lange Zeit nicht,
was äußerst vernünftig ist. Es hängt ja mit dem vorigen
zusammen, dass Briefe ein so herrliches Anti-Schlafmittel sind. In
welchem Zustand kommen sie an! Ausgedörrt, leer und aufreizend, eine
Augenblicksfreude mit langem Leid hinterher. Während man sie selbstvergessen
liest, erhebt sich das bischen Schlaf, das man hat, fliegt durch das offene
Fenster weg und kommt lange nicht zurück. Deshalb schreiben wir also
einander nicht. Ich denke aber oft, wenn auch zu flüchtig an ihn.
Mein ganzes Denken ist zu flüchtig. Gestern abend aber dachte ich
viel an ihn, stundenlang, die wegen ihrer Feindseligkeit für mich
so kostbaren Nachtstunden im Bett verwendete ich dafür, ihm in einem
vorgestellten Brief einige mir damals äußerst wichtig vorkommende
Mitteilungen mit den gleichen Worten immerfort zu wiederholen. Und früh
kam wirklich ein Brief von ihm und enthielt überdies
die Bemerkung, dass der Freund seit einem Monat oder vielleicht richtiger
vor einem Monat das Gefühl gehabt habe, er solle zu mir kommen, eine
Bemerkung, die merkwürdig mit Dingen übereinstimmt, die ich erlebt
habe.
Diese Briefgeschichte hat mir den Anlaß gegeben, einen Brief zu schreiben
und wenn ich schon geschrieben habe, wie sollte ich dann nicht auch Ihnen
schreiben, Frau Milena, der ich vielleicht am liebsten schreibe. (Soweit
man überhaupt gern schreiben kann, was aber nur für die Gespenster
gesagt ist, die lüstern meinen Tisch umlagern)
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Schon lange habe ich nichts von Ihnen in den Zeitungen gefunden, außer
die Modeaufsätze, die mir in der letzten Zeit bis auf kleine Ausnahmen
fröhlich und ruhig vorkamen, gar der letzte Frühlingsaufsatz.
Vorher habe ich allerdings 3 Wochen die Tribuna nicht gelesen (ich werde
mir sie aber zu verschaffen suchen) ich war in Spindelmühle.
1] Frühlingsaufsatz: Milena Jesenká,
"Klobouky na jaro. Dopis z Vidně" [Frühlingshüte.
Ein Brief aus Wien], in: "Tribuna", IV. Jg., Nr. 47 (2. 4.
1922), S. 1 f.
2] Spindelmühle: Vom 27. Januar bis zum 17.
Februar war Kafka auf einem Erholungsurlaub in Spindelmühle/Špindlerův
Mlýn (Riesengebirge).
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at