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[An die Eltern]
[Planá nad Luznicí 26. - 27. Juli 1922; Mittwoch / Donnerstag]

Liebste Eltern, vielen Dank für die guten Nachrichten. Nur möchte ich gerne Einzelnheiten wissen, die aber mit 2 Zeilen zu beantworten wären: wie es sich mit dem Liegen verhält, wie oft und wie lange Mutter Du dort bist, wann die Näthe herausgenommen werden, wann die Rückkehr zu erwarten ist. Ich soll erst kommen, wenn der Vater zuhause ist, aber man erzählte doch etwas von einem 12tägigen Sanatoriumsaufenthalt und der wäre etwa heute vorüber. - Uns geht es sehr gut, Ottla ist mit Vera spazieren, einigemal im Tage sagt sie (die Ottla nämlich) dass sie gern schreiben würde, aber sie ist doch die Hausfrau, wie soll sie schreiben in der einen Hand den Kochtopf, in der andern die Windeln, in der dritten die Bonbons für die Kinder, welche sie von dem Spielplatz unter meinem Fenster weglocken, wegbitten, wegschimpfen muß. Und dann: wenn ich ihr nicht wenigstens die paar Sekretärdienste (als Obersekretär der ich bin) leisten sollte, es wäre traurig. Was ich also schreibe, gilt auch als von ihr geschrieben.

Herzlichste Grüße

Liebe Elli, wie Du mir entschlüpfst, gewiß trifft Dich auch dieser Brief nicht mehr in || in Prag an. Ich habe Dir nämlich nach Brunshaupten geschrieben, Brief und Karte, und Dich gebeten meine Schande beim Ewer wieder gutzumachen. Es gibt drei Möglichkeiten dafür: entweder in Berlin zu ihnen zu gehn (Berlin NW 7 Dorotheenstraße 35) was vielleicht jetzt auf der Rückfahrt möglich wäre und sich empfehlen würde, weil man sich mündlich doch am besten beraten kann und entschlußkräftiger wird oder dadurch dass Du schriftlich etwas bestellst und es Dir nach Prag schicken läßt oder schließlich es Dir nach Brunshaupten schicken läßt, wobei Du gegenüber der zweiten Möglichkeit etwa 25 % ersparen würdest.
Sieh, Elli, es handelt sich ja nicht darum dass Du irgendeine große Bestellung machst, sondern nur paar Bücher kaufst, nicht um der Ewerbuchhandlung auf die Beine zu helfen, auf denen sie ja fest genug steht, sondern um ihr zu zeigen, dass ich kein Lügner, kein ausgelassener Schuljunge bin, der ihr Briefe, Prospekte, Voranschläge herauslockt, um dann als Abschluß seiner Taten Deine persönliche Ankunft (mit Deiner vollen Zustimmung oder gar auf Deine Anregung, ich weiß nicht mehr) ihnen anzuzeigen, womit dann die Geschichte zuende wäre. also bitte liebe Elli nimm Dich meines Rufes an. Ich habe Dir für den wahrscheinlichen Fall des Verlustes des ersten Bücherzettels einen zweiten geschickt und wiederhole daraus:
Tempelausgabe Schiller - ist sie Dir zu teuer, gibt es ja ausgezeichnete billigere etwa Cotta oder noch billiger allerdings schlechter Bong, sie werden Dir aber noch andere nennen.
Weltgeschichte Verlag Ullstein, sie werden Dir aber noch andere nennen, ein illustrierte Weltgeschichte zuhause haben ist doch schön, nicht? Oder auch eine Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Brehns Tierleben? Oder gar ein Konversationslexikon.
Oder Herzls Tagebücher, deren erster Band jetzt erschienen ist, ein sehr reiches, auch für Karl interessantes, rührendes Buch.
Oder etwas bunt durcheinander: Grimms Märchen (vollständige Ausgabe 3 Bände, Georg Müller Verlag, ein schöner Besitz) oder Dubnow Neueste Geschichte der Juden oder Richard Dehmel: Briefe oder Schillerbriefe (ein Band Verlag Langewiesche) oder Goethebriefe (zwei Bände gleicher Verlag) oder Taine: Französische Revolution oder Gorki: Selbstbiographie (bisher 2 Bände Verlag Ullstein, für Karl und Felix) oder - oder - oder - meiner Gier nach Büchern darf ich gar nicht die Kette lockern, sonst käme es zu keinem Ende.
Im Ganzen genügt es mir, wenn Du der Ewerbuchhandlung schreibst: "Ich konnte mich in Berlin leider bei Ihnen nicht aufhalten, bestelle das Buch so und so à 10 Mark und bitte mir zu bestätigen, dass mein Bruder kein Lump ist." Bestellst Du mehr, verkleinert sich dadurch entsprechend meine Lumperei.
Wie ich aus Deinem Brief herausgelesen habe, dass Du Gerti nicht hinschickst? Ich weiß nicht mehr ob ich es aus Deinem Brief herausgelesen habe oder aus dem brüderlichen Herzen oder vielleicht nur aus Karls Auskunft. Traurig ist es freilich, das Unternehmen ist eben zu groß für unsere Kräfte, für unser aller Kräfte.
Alles Gute, Dir und allen

Dein F

Liebste Mutter und Vater und Ely! Euch allen viele Grüße. Und die Ely, soll auf einen Tag wenigstens kommen. Euere Ottla.
Das ist ja ein sehr guter Einfall, komm Elli ein wenig zu uns.


Brief, 1 Doppelblatt, 23,8 x 14,4 cm, 4 Seiten mit Tinte beschrieben; Bleistiftzusätze von Ottla und Kafka.
Undatiert; die Zuordnung ergibt sich aus dem Inhalt des Briefes (" . . . man erzählte doch etwas von einem 12tägigen Sanatoriumsaufenthalt und der wäre etwa heute vorüber"), aus dem Brief an Oskar Baum vom 16. Juli 1922 (Br, 394): " . . . am Vierzehnten nachmittag bekam ich in Planá ein Telegramm . . . Ich fuhr gleich nach Prag, noch am Vierzehnten abends wurde der Vater operiert . . . ", und an Robert Klopstock vom 24. Juli 1922 (Br, 398): "mein Vater ist operiert worden ... , vor neun Tagen . . . "
Ottla: Ottilie, 1892-1943, jüngste Schwester Kafkas, verheiratete Davidová.
Vera: Vera (geb. 1921), Ottlas ältere Tochter, später verheiratete Projsová, dann Saudková; Publizistin, Übersetzerin und Verlagsredakteurin; lebt heute in Prag. [Information von 1993]
Wegschimpfen muß: In mehreren seiner Briefe aus Planá, die an Felix Weltsch und Max Brod gerichtet waren, beschwert Kafka sich über den Lärm der unter seinen Fenstern spielenden Kinder. Dabei erwähnt er zweimal Ottlas rettenden Eingriff: "Eben bringt mir Ottla die Nachricht, dass sie (unaufgefordert, von mir gar nicht aufmerksam gemacht, unten in der Küche auf dem Hof kann sie überdies die Kinder kaum hören) die Kinder weggeschickt hat und dass sie - es ist die artige Gruppe - bereitwilligst gegangen sind." (BRK II, 387) - ¾8 früh, die Kinder, [hinzugefügt:] die dann von Ottla doch vertrieben wurden, sind schon da, nach einem erstaunlich guten Tag, dem gestrigen, sind sie schon so bald hier, nur zwei erst und ein Kinderleiterwagen, aber es ist genug." (BRK II, 394)
Obersekretär: Laut Dekret vom 14. Februar 1922, Nr. 122/1922, wurde Kafka zum Obersekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für Böhmen in Prag ernannt (siehe Výkaz sluzby - Dienst-Tabelle II im LA PNP, FK, Kart.-Nr. 2).
Elli:: Gabriele, 1889-1941, älteste der drei Schwestern Kafkas, verheiratete Hermann.
Brunshaupten: Sommerbadeort in Mecklenburg an der Ostsee, heute Ortsteil von Kühlungsborn; Elli verlebte dort 1922 mit ihrer Familie einen Sommerurlaub.
Ewer: Ewers Buchhandlung in Berlin; Kafka stand schon seit längerem mit ihr in Verbindung, siehe z. B. seinen Brief an Ottla aus Matliary vom Februar 1921 (O, 108).
Tempelausgabe: Vermutlich Friedrich von Schiller "Sämtliche Werke in 12 Bänden und 1 Ergänzungsband", Leipzig: Tempelverlag 1910-1912.
Cotta: Vermutlich Friedrich von Schiller, "Sämtliche Werke. Säkularausgabe in 16 Bänden", Hrsg. Eduard von der Hellen, Stuttgart-Berlin: Cotta 1904-1905.
Bong: Vermutlich "Schillers Werke. Vollständige Ausgabe in 15 Teilen", Wien-Stuttgart: Bong & Co 1909.
Weltgeschichte: Vermutlich "Die Weltgeschichte. Die Entwicklung der Menschheit in Staat und Gesellschaft, in Kultur- und Geistesleben", Hrsg. Julius Albert Georg von Pflugk-Hartung, Berlin: Ullstein 1907-1910. 6 Bde.
Herzls Tagebücher: Theodor Herzl, "Tagebücher 1895 bis 1904", Bd. 1, Berlin: Jüdischer Verlag 1922.
Karl: Karl Hermann (1883-1939), heiratete 1911 Kafkas Schwester Elli; Kaufmann, gebürtig aus Zürau (Sirem) bei Podersam (Podborany).
Grimms Märchen: Vermutlich Jakob Grimm, "Kinder-Märchen", mit einem Nachwort und durch Stücke aus den Anmerkungen ergänzt und hrsg. von Paul Ernst, München: G. Müller 1910. 3 Bde.
Dubnow Neueste Geschichte der Juden: Simon Dubnow, "Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (1789-1914)", Übers. Alexander Eliasberg, Jena: Jüdischer Verlag 1920. 2 Bde.
Richard Dehmel: Briefe: Richard Dehmel, "Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883-1902", Bd. 1, Berlin: S. Fischer 1922.
Schillerbriefe: Friedrich von Schiller, "Feuertrunken. Eine Dichterjugend. Schillers Briefe bis zu seiner Verlobung", Hrsg. Hans Brandenburg, Ebenhausen b. München: Langewiesche-Brandt 1909.
Goethebriefe: Johann Wolfgang von Goethe, "Das große Leben. Goethes Briefe in 2 Bänden", Hrsg. Ernst Hartung, Ebenhausen b. München: Langewiesche-Brandt s. d. [1918]. Bd. 1: "Alles um Liebe. Goethes Briefe aus der 1. Hälfte seines Lebens"; Bd. 2: "Vom täglichen Leben. Goethes Briefe aus der 2. Hälfte seines Lebens."
Taine: Französische Revolution:: Vermutlich Hippolyte Taine, "Die Entstehung des modernen Frankreich", Bd.2: "Das revolutionäre Frankreich", Abt. 1-3, autoris. deutsche Bearb. Leopold Katscher, 3., veränd. Aufl., Leipzig: P. E. Lindner 1911.
Gorki: Selbstbiographie: Maxim Gorki, "Selbstbiographie", Übers. August Scholz, Berlin: Ullstein 1917-1918. Bd. 1: Meine Kindheit; Bd.2: "Unter fremden Menschen."
dass Du Gerti nicht hinschickst: Kafka setzte sich sehr dafür ein, dass die Kinder seiner Schwester Elli, Felix (geb. 1911) im Jahre 1921, Gerti (geb. 1912) im Jahre 1922 auf die gerade gegründete internationale Schule, die "Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze" in Hellerau bei Dresden geschickt wurden. Dort wurde auf der Grundlage einer reformpädagogischen Gymnastik nach westeuropäischem Vorbild unterrichtet; anfangs wirkte hier der englische Fachmann A. S. Neill (siehe BH I, 456-457). Kafka führte mit seiner Schwester 1921, als es um Felix ging, eine umfangreiche Korrespondenz über Fragen der Pädagogik, stützte sich dabei auf Swifts Ansichten von der elterlichen Erziehung, vermochte die Schwester jedoch weder damals noch ein Jahr später zu überzeugen. Im Juli und im September 1922 schrieb er in Briefen an Robert Klopstock zu diesem Thema: "Die Schwester hält sich jedenfalls in Hellerau auf, vielleicht ist sie heute dort, Frau Neustädter hat ihr geantwortet." (Br, 381) Und: "Meine kleine Nichte kommt nicht nach Hellerau, natürlich. Immerhin habe ich erreicht, dass die Schwester mit dem Schwager und den Kindern in Hellerau waren, allerdings habe ich gerade durch diesen Zwischensieg jede Hoffnung auf den endgültigen Sieg verloren. Frau Neustädter hat sehr abgeschreckt, sie hatte boshafterweise an dem Tag gerade Schnupfen und Geschwüre im Gesicht, Herr Neustädter, der Engländer, eine Hilfslehrerin, eine Dalcroze-Schülerin haben zwar sehr gefallen, konnten aber gegen den Schnupfen nicht aufkommen; die Schüler waren auf einem Ausflug, es war Sonntag. Es ist eben so, dass die Schwester nicht die Kraft hat, den Entschluß zu fassen, ich kann es ihr nicht übelnehmen, ich will seit Monaten einen 10 Minuten-Ausflug mit der Bahn machen und es wird mir nicht gelingen." (Br, 418)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at