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An Johannes Urzidil

[Spindelmühle, Stempel: 17.II. 1922]
 

Sehr geehrter Herr Urzidil,

meinen herzlichen Dank für das Buch. Es hat mich im Wesen, aber auch im Aufbau sehr an Iwan Iljitsch erinnert! Zuerst Werfels sehr einfache und schreckliche Wahrheit (wahr auch der unheimliche "freudig Lug-Gewillte"), dann das Sterben dieses jungen Menschen, der drei Tage- und Nächte-Schrei, man hat in Wirklichkeit keinen Laut davon gehört, und wenn es hörbar gewesen wäre, wäre man ein paar Zimmer weiter gegangen, es gibt keinen anderen "Ausweg" als diesen und schließlich Ihr männliches und deshalb trostreiches Nachwort, zu dem man sich natürlich am liebsten schlagen würde, wenn es nur nicht, wie es in der Natur des Trostes liegt, zu spät käme, nach der Hinrichtung. Es ist bei Iwan lljitsch nicht anders, nur ist es hier im "Vermächtnis" noch deutlicher, weil jedes Stadium sich besonders personifiziert.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Kafka




Buch: Der Brief bezieht sich auf das von Johannes Urzidil herausgegebene, von Franz Werfel mit einem Vorwort versehene Buch "Karl Brand - Das Vermächtnis eines Jünglings" (Wien, I920). Das Buch enthält den literarischen Nachlaß des jungen Prager Dichters Karl Brand, der 1918 nach längerer Krankheit an Schwindsucht starb. -Kafka zitiert Tolstois Erzählung "Der Tod des Iwan Iljitsch".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at