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Max Brod an Franz Kafka
[Prag ]
Liebster Franz,
Ich schreibe dir in einem Café nahe dem Weinberger
Theater. Deinen Brief habe ich nicht bei mir, glaube aber doch, ihn
vollständig beantworten zu können.
Das Hauptthema: Angst. Zuerst verfalle ich natürlich
auf die Freudsche Doktrin: Angst = verdrängte Erotik. Es stimmt auch,
dass der Gegenstand der Angst dir selbst unklar, deutlich nur das
Angstgefühl ist. - Man erschrickt vor einer solchen Vereinfachung
des Tatbestandes, den Freud selbst gewiß nicht zugeben würde,
nicht einmal ein richtiger Freudschüler. - Aber dazu kommt mein lange
gehegtes Leid, auf dich bezüglich: dass du Dinge, die natürliche
Bedürfnisse sind, verabscheust-darriüssen ja dann solche Angstzustände
entstehen und die geringste drohende Veränderung wühlt die ganze
latente Mißstimmung auf. Wenn ich mir nicht etwa ein ganz falsches
Bild mache: - du weichst den Frauen aus, du versuchst, ganz ohne sie zu
leben. Und das geht nicht. Das äußert sich dann in solchen extremen
Unbehaglichkeiten, - wobei ich zugebe, dass der Versuch, den Frauen
oder dem Frauentraum in sich genug zu tun, auch sehr wenig behaglich ist
und, wie mein Beispiel zeigt, dem andern Pol des Wahnsinns nahe bringt.
Sollte also die ganze Lebensweisheit darin bestehn, nicht zu Ende zu denken,
nicht konsequent zu sein, zwischen der Angst vor Frauen und dem Versinken
in Frauen zu changieren dh. rechtzeitig abzubrechen, wenn die gerade Linie
der Entwicklung in den Wahnsinn führt? - Für mich weiß
ich keinen Rat. Für dich glaube ich einen zu wissen (natürlich):
wenn dieser Monat um ist und du nach Prag kommst, gleich eine große
Deutschlandreise zu machen, zu Wolff nach München, - dann mich Ende
Oktober in Berlin treffen (da soll ich einen Vortrag halten, - das Datum
der Premiere dagegen ist noch ganz ungewiß, vielleicht erst 1923
Anfang.) - Neue Menschen, neue Beziehungen sehen, selbst in neue Beziehungen
eintreten, - du mußt diesen Bann brechen. Nur die ersten Schritte
werden dir schwer fallen, deshalb hätte ich sie gern mit dir probiert,
- falls deine Gesundheit es erlaubt. Übrigens fahre ich wohl auch
schon Anfang Oktober nach Berlin. Es kostet jetzt hin und zurück
nur 52 K, und zwar bis Bodenbach und retour 46 K, Bodenbach Berlin und
zurück-- 6 Kronen! Es wäre lächerlich, wenn ich nicht alle
14 Tage zu E. führe.
Augenblicklich steht es da gut. Sogar sehr gut.
Emmy ist in Berlin zufrieden, Leipzig erscheint ihr "als böser
Traum". Sie schreibt mir so direkt, leidenschaftlich, hemmungslos,
ausführlich,-wie ich es nie gewagt habe. Täglich! Dabei manchmal
8 Seiten. -Und diese ungeheure Leidenschaft habe ich Narr 8 Wochen lang
aus der Ferne auf mich allein konzentrieren zu können geglaubt. So
viel Glut muß sich ein gegenwärtiges anwesendes Objekt
suchen, - und wird es leider bald in den "Herren der Pension"
finden, die schon schattenhaft in den Briefen auftauchen. Traurig sehe
ich das kommen, kann es kaum ändern. - Wie kannst du glauben, dass
solch ein Gegenwartsgeschöpf wie My dich "haßt"?
Längst ist sie von dir entzückt, in jedem Brief seit deinem
Brief an sie schreibt sie Grüße an dich, neulich bat sie, ich
solle es einrichten, dass du bei der Premiere neben ihr sitzest. Dann
hieß es ungefähr so weiter: "Diesen Tag könnten wir
dann eigentlich festhalten, indem wir uns alle drei recht gemütlich
beim Kaffeetisch photographieren lassen". - Die Süße,
Liebe, Gute! Ich liebe sie wahnsinnig. Morgen bin ich ja bei ihr.
Oskar läßt grüßen, ist natürlich
nicht im Mindesten böse. Aber dass du den Roman liegen lässest,
kann ich nur für eine lügnerische Sensationsmeldung (Hauas) ansehen!!
- Schreibe davon mehr dh. vom Weiterarbeiten und vor allem auch, ob du
gesundheitlich Besserung fühlst, - sonst nehme ich dich Anfang Oktober
nicht mit zum Photographen nach Berlin. - Grüße die liebe Ottla!
--
Dein Max
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Weinbergen Theater: Es handelt sich um das Stadt-Theater in der ehemaligen Vorstadt Prags Königliche Weinberge (Královské Vinohrady).
Datum der Première: Siehe Anm. 85 oben.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |