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Max Brod an Franz Kafka

[Prag ]

Donnerstag [14.9.1922]
 

Liebster Franz,

Ich schreibe dir in einem Café nahe dem Weinberger Theater. Deinen Brief habe ich nicht bei mir, glaube aber doch, ihn vollständig beantworten zu können.

    Das Hauptthema: Angst. Zuerst verfalle ich natürlich auf die Freudsche Doktrin: Angst = verdrängte Erotik. Es stimmt auch, dass der Gegenstand der Angst dir selbst unklar, deutlich nur das Angstgefühl ist. - Man erschrickt vor einer solchen Vereinfachung des Tatbestandes, den Freud selbst gewiß nicht zugeben würde, nicht einmal ein richtiger Freudschüler. - Aber dazu kommt mein lange gehegtes Leid, auf dich bezüglich: dass du Dinge, die natürliche Bedürfnisse sind, verabscheust-darriüssen ja dann solche Angstzustände entstehen und die geringste drohende Veränderung wühlt die ganze latente Mißstimmung auf. Wenn ich mir nicht etwa ein ganz falsches Bild mache: - du weichst den Frauen aus, du versuchst, ganz ohne sie zu leben. Und das geht nicht. Das äußert sich dann in solchen extremen Unbehaglichkeiten, - wobei ich zugebe, dass der Versuch, den Frauen oder dem Frauentraum in sich genug zu tun, auch sehr wenig behaglich ist und, wie mein Beispiel zeigt, dem andern Pol des Wahnsinns nahe bringt. Sollte also die ganze Lebensweisheit darin bestehn, nicht zu Ende zu denken, nicht konsequent zu sein, zwischen der Angst vor Frauen und dem Versinken in Frauen zu changieren dh. rechtzeitig abzubrechen, wenn die gerade Linie der Entwicklung in den Wahnsinn führt? - Für mich weiß ich keinen Rat. Für dich glaube ich einen zu wissen (natürlich): wenn dieser Monat um ist und du nach Prag kommst, gleich eine große Deutschlandreise zu machen, zu Wolff nach München, - dann mich Ende Oktober in Berlin treffen (da soll ich einen Vortrag halten, - das Datum der Premiere dagegen ist noch ganz ungewiß, vielleicht erst 1923 Anfang.) - Neue Menschen, neue Beziehungen sehen, selbst in neue Beziehungen eintreten, - du mußt diesen Bann brechen. Nur die ersten Schritte werden dir schwer fallen, deshalb hätte ich sie gern mit dir probiert, - falls deine Gesundheit es erlaubt. Übrigens fahre ich wohl auch schon Anfang Oktober nach Berlin. Es kostet jetzt hin und zurück nur 52 K, und zwar bis Bodenbach und retour 46 K, Bodenbach Berlin und zurück-- 6 Kronen! Es wäre lächerlich, wenn ich nicht alle 14 Tage zu E. führe.

    Augenblicklich steht es da gut. Sogar sehr gut. Emmy ist in Berlin zufrieden, Leipzig erscheint ihr "als böser Traum". Sie schreibt mir so direkt, leidenschaftlich, hemmungslos, ausführlich,-wie ich es nie gewagt habe. Täglich! Dabei manchmal 8 Seiten. -Und diese ungeheure Leidenschaft habe ich Narr 8 Wochen lang aus der Ferne auf mich allein konzentrieren zu können geglaubt. So viel Glut muß sich ein gegenwärtiges anwesendes Objekt suchen, - und wird es leider bald in den "Herren der Pension" finden, die schon schattenhaft in den Briefen auftauchen. Traurig sehe ich das kommen, kann es kaum ändern. - Wie kannst du glauben, dass solch ein Gegenwartsgeschöpf wie My dich "haßt"? Längst ist sie von dir entzückt, in jedem Brief seit deinem Brief an sie schreibt sie Grüße an dich, neulich bat sie, ich solle es einrichten, dass du bei der Premiere neben ihr sitzest. Dann hieß es ungefähr so weiter: "Diesen Tag könnten wir dann eigentlich festhalten, indem wir uns alle drei recht gemütlich beim Kaffeetisch photographieren lassen". - Die Süße, Liebe, Gute! Ich liebe sie wahnsinnig. Morgen bin ich ja bei ihr.

    Oskar läßt grüßen, ist natürlich nicht im Mindesten böse. Aber dass du den Roman liegen lässest, kann ich nur für eine lügnerische Sensationsmeldung (Hauas) ansehen!! - Schreibe davon mehr dh. vom Weiterarbeiten und vor allem auch, ob du gesundheitlich Besserung fühlst, - sonst nehme ich dich Anfang Oktober nicht mit zum Photographen nach Berlin. - Grüße die liebe Ottla! --

Dein Max        



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Weinbergen Theater: Es handelt sich um das Stadt-Theater in der ehemaligen Vorstadt Prags Königliche Weinberge (Královské Vinohrady).


Datum der Première: Siehe Anm. 85 oben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at