Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[Planá, Ankunftstempel Praha-Hrad, 11.9. 22 ]

[An:] Martin Salat Praha-Hrad posterestante

[Abs.:] Dr Kafka Planá nad Lužnici


Lieber Max - rede nicht von "richtigem Instinkt", der mich geführt hat, etwa wenn ich nicht nach Deutschland fuhr. Es war etwas anderes. Jetzt bin ich etwa eine Woche wieder hier, diese Woche habe ich nicht sehr lustig verbracht (denn ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen, konnte sie seit dem "Zusammenbruch", der eine Woche vor der Reise nach Prag begann, nicht wieder anknüpfen, trotzdem das in Planá Geschriebene nicht ganz so schlecht ist wie das, was Du kennst), nicht sehr lustig, aber sehr ruhig, ich wurde fast dick, wie ich überhaupt am ruhigsten bin, wenn ich mit Ottla allein bin, ohne Schwager und Gäste. Gestern nachmittag, wieder sehr ruhig, gehe ich an der Küche der Hausfrau vorüber, wir kommen in ein kleines Gespräch, sie ist (eine komplicierte Erscheinung), nachdem sie bisher formell freundlich, aber kalt, böse, hinterlistig gegen uns gewesen ist, in den letzten Tagen, vollständig unerklärbar, offen, herzlich, freundlich zu uns geworden, wir kommen also in ein kleines Gespräch, über den Hund, über das Wetter, über mein Aussehn (jak jste přišel, měl jste smrtelnou barvu*) und irgendein Teufel bläst mir ein, damit zu protzen, dass es mir sehr gut hier gefällt und dass ich am liebsten überhaupt hier bliebe und dass mich nur die Rücksicht auf das Essen im Gasthaus davon abhält, ihre Bemerkung, dass mir vielleicht bange wäre, lehne ich als lächerlich ab, und nun geschieht etwas, was völlig unvorsehbar war, nach unserem ganzen Verhältnis (auch ist sie eine reiche Frau): sie bietet sich an, mir das Essen zu geben, so lange ich will, bespricht auch schon Details, das Abendessen udgl. Ich danke hocherfreut für das Angebot, alles ist entschieden; ich werde gewiß den ganzen Winter hierbleiben, nochmals danke ich und gehe. Sofort, noch während ich die Treppe in mein Zimmer hinaufgehe, erfolgt der "Zusammenbruch", es ist der vierte hier in Planá. (Der erste war an einem Lärmtag der Kinder, der zweite, als Oskars Brief kam, der dritte, als es sich darum handelte, dass Ottla schon am 1. September nach Prag übersiedeln und ich noch einen Monat bleiben und im Gasthaus essen soll). Das Äußere eines solchen Zustandes muß ich nicht beschreiben, das kennst Du auch, doch mußt Du an das Höchstgesteigerte denken, was Du in Deiner Erfahrung hast, dort wo es sich schon danach umsieht, wie es umklappen könnte. Vor allem weiß ich, dass ich nicht werde schlafen können, der Schlafkraft wird das Herz herausgebissen, ja ich bin schon jetzt schlaflos, ich nehme die Schlaflosigkeit förmlich vorweg, ich leide, wie wenn ich schon die letzte Nacht schlaflos gewesen wäre. Ich gehe dann aus, kann an nichts anderes denken, nichts als eine ungeheuere Angst beschäftigt mich und in helleren Augenblicken noch die Angst vor dieser Angst. An einem Kreuzweg treffe ich zufällig Ottla, es ist zufällig die gleiche Stelle, wo ich sie mit meinem Antwortbrief für Oskar getroffen habe. Diesmal verläuft es ein wenig besser als damals. Es ist jetzt nämlich sehr wichtig, was Ottla sagen wird. Sagt sie nur das kleinste Wort der Zustimmung zu dem Plan, dann bin ich ohne Erbarmen zumindest für einige Tage verloren. Denn ich selbst, was mich selbst betrifft, habe ja aus mir heraus nicht den geringsten Einwand gegen den Plan, es ist vielmehr die Erfüllung eines großen Wunsches, allein, ruhig, gut versorgt, nicht teuer, den Herbst und Winter in dieser mir ungemein angenehmen Gegend zu verbringen. Was ist denn einzuwenden? Nichts als die Angst und die ist doch kein Einwand. Infolgedessen bin ich, wenn Ottla nichts einwendet, gezwungen, mit mir darum zu kämpfen, ein Vernichtungskampf, der überdies gewiß nicht damit enden wird, dass ich bleibe. Nun also zum Glück sagt Ottla sofort, dass ich nicht bleiben darf, die Luft ist zu rauh, die Nebel u. a. Damit ist die Spannung gelöst und ich kann das Geständnis machen. Es bleibt zwar noch die Schwierigkeit wegen der Annahme des Anbotes, aber die ist nach Meinung der Ottla gering, mir scheint sie allerdings ungeheuer, weil mir die Maße der ganzen Sache ins Ungeheure gehn. Vorläufig bin ich jedenfalls ein wenig beruhigt oder vielmehr nur der Verstand, soweit er an der Sache beteiligt ist, ich selbst bin nicht beruhigt, zuviel ist herauf beschworen, das jetzt aus Eigenem schon lebt und nicht mehr mit einem Wort zu beruhigen ist, sondern schon einen gewissen Zeitablauf benötigt. Ich gehe dann allein in den Wald, wie jeden Abend; im dunklen Wald ist meine liebste Zeit; diesmal aber weiß ich von nichts anderem als dem Schrecken; den ganzen Abend hält es an und in der Nacht kann ich nicht schlafen. Erst am Morgen im Garten, im Sonnenschein löst es sich ein wenig, als vor mir Ottla mit der Hausfrau gelegentlich darüber spricht, ich mich ein wenig einmische und zu meinem großen Staunen (das völlig außerhalb des Verstandes stattfindet) diese anderswo weltbewegende Angelegenheit hier durch paar flüchtig gewechselte Sätze ins Reine gebracht wird. Ich stehe da wie Gulliver, wenn die Riesenfrauen sich unterhalten. Es scheint sich sogar herauszustellen, dass die Hausfrau das Angebot nicht allzu ernst genommen hat. Ich aber behalte hohle Augen noch den ganzen Tag.

    Was ist das nun? Soweit ich es durchdenken kann, ist es nur eines. Du sagst, ich solle mich an Größerem zu erproben suchen. Das ist in gewissem Sinne richtig, andererseits aber entscheiden doch die Verhältniszahlen nicht, ich könnte mich auch in meinem Mauseloch erproben. Und dieses eine ist: Furcht vor völliger Einsamkeit. Bliebe ich hier allein, wäre ich völlig einsam. Ich kann nicht mit den Leuten hier sprechen, und täte ich es, wäre es Erhöhung der Einsamkeit. Und ich kenne andeutungsweise die Schrecken der Einsamkeit, nicht so sehr der einsamen Einsamkeit, als der Einsamkeit unter Menschen, etwa in der ersten Zeit in Matliar oder an paar Tagen in Spindelmühle, doch davon will ich nicht reden. Wie ist es aber mit der Einsamkeit? Im Grunde ist doch die Einsamkeit mein einziges Ziel, meine größte Lockung, meine Möglichkeit und, vorausgesetzt, dass man überhaupt davon reden kann, dass ich mein Leben "eingerichtet" habe, so doch immer im Hinblick darauf, dass sich die Einsamkeit darin wohlfühle. Und trotzdem die Angst vor dem, das ich so liebe. Viel verständlicher ist die Angst um Erhaltung der Einsamkeit, die gleichwertig an Stärke ist und auf Anruf sofort bei der Hand ("Zusammenbruch" als die Kinder schrien, als Oskars Brief kam) und verständlicher sogar noch die Angst vor dem gewundenen Mittelweg und diese Angst ist noch die schwächste der drei. Zwischen diesen zwei Ängsten werde ich zerrieben - die dritte hilft nur nach, wenn man merkt dass ich flüchten will - und schließlich wird noch irgendein großer Müller hinter mir herzanken, dass sich bei der vielen Arbeit nichts Nahrhaftes ergeben hat. Jedenfalls, ein Leben wie es etwa mein getaufter Onkel geführt hat, wäre mir ein Grauen, trotzdem es auf meinem Weg liegt, allerdings nicht als Ziel, aber das war es auch ihm nicht, erst in der letzten Verfallszeit. Bezeichnend ist es übrigens, dass mir in leeren Wohnungen so wohl ist, aber wohl nicht in ganz leeren, sondern in solchen, welche voll Erinnerungen an Menschen sind und vorbereitet für weiteres Leben, Wohnungen mit eingerichteten ehelichen Schlafzimmern, Kinderzimmern, Küchen, Wohnungen, in die früh Post für andere eingeworfen, Zeitung für andere eingesteckt wird. Nur darf niemand der wirklichen Bewohner kommen, wie es mir letzthin geschehen ist, denn dann bin ich schwer gestört. Nun, das ist die Geschichte der "Zusammenbrüche".

__________


    Deine guten Nachrichten freuen mich, vorvorgestern, als der Brief kam, konnte ich mich noch freuen, heute auch wieder langsam. Nach Berlin fahre ich jetzt noch nicht mit. Ottla ist ja fast nur meinetwegen noch für einen Monat hiergeblieben, da sollte ich jetzt wegfahren? (warum fährst Du am 30. Oktober?) Auch will ich doch zu der Uraufführung fahren und zweimal zu fahren scheint mir zu großartig. Und was E. betrifft, so haßt sie mich doch und ich fürchte fast ihr zu begegnen, und was Dich betrifft, so ist doch mein Einfluß, wenn es einen gibt, aus dem Verborgenen jedenfalls stärker, als wenn ich hervortrete.

    Was mir an Speyer nicht gefallen hat, sagst Du selbst. Das Schulgut, die anfängliche Christine und Blanche ist ungemein schön, löst den verhärtetsten Sinn, aber dann sinkt seine Hand, man kommt mit dem Lesen diesem Sinken kaum nach. Es gibt dann freilich auch noch genug ehrenwerte Stellen, aber nicht mehr, andererseits kündigt sich der spätere Niedergang doch auch in der ersten Hälfte schon an, etwa die bequeme Charakterisierung der Mitschüler oder das Einleitungskapitel. Wenn einer in der Novembernacht zum Zweck von Vergleichen zwischen tibetanischer und deutscher Stille das Fenster aufmacht, möchte man es ihm am liebsten wieder zuschlagen. Hier sind Übertreibungen Storm'scher Stimmung.

    Auch "Anna" hat mich ein wenig bedrückt und jedenfalls mir wenig Freude gemacht. Überdies habe ich es fast zweimal gelesen, einmal für mich, und dann noch an 16 Gesänge für Ottla. Ich erkenne ja das Meisterliche im Bau, in den geistreichen und lebendigen Gesprächen, in vielen Stellen, aber was für ein Schwall ist das Ganze! Und keiner der Menschen, außer Just, lebt für mich. Dabei denke ich gar nicht an das vollkommen Lächerliche, unwürdige Komödie, an Erwin z. B. der nie gelebt hat, nie gestorben ist und immerfort aus seiner Grabattrappe gezerrt wird (wir können nur noch mit Lachen von ihm lesen), oder an Thea oder an die Großmutter. Aber fast alle andern auch, man wird seines armen Lebens gewiß diesen Nichtlebenden gegenüber. Du liebst nicht Anna, sondern E., und liebst nicht Anna E's wegen, sondern liebst E's wegen wieder nur E. und selbst Anna kann Dich daran nicht hindern. Am liebsten sind mir die Herrnhuter und so unbedingt, wie Du es dargestellt hast, ist nicht Partei gegen sie genommen: "und sie hatten im Auge unleugbar ein seltsames Glänzen, tief und gut".

    Viel Glück in Berlin!

F         


Verteidige mich bitte vor Oskar! Auf einen Abbittebrief hat er mir schon gar nicht mehr geantwortet.

Hat E. etwas zu meinem Brief gesagt?

Sehr gut, dass Du die Kritiken sammelst, ich habe auch schon eine kleine Sammlung.


* "Als Sie kamen, hatten Sie die Farbe des Todes."



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


mein getaufter Onkel: Rudolf Löwy (1861-1921). Vgl. T 199.


Uraufführung: Von Klarissas halbes Herz (siehe Anm.10 oben).


tibetanischer . . . Stille: Bei Speyer (siehe Anm. 81 oben) heißt es: "Ich öffnete einen Augenblick das Fenster und beugte mich hinaus. Nachtstille einer deutschen Landschaft! Wie anders geartet war die Stille der asiati schen Hochebene, auf der ich ein Jahr lang gelebt hatte! Wie ist Stille geschieden von Stille!"


"und sie hatten ... tief und gut": Gerhart Hauptmann, Anna, Canto 19.


zu meinem Brief: Siehe den Briefentwurf an Emmy Salveter, der Br 411 f. abgedruckt ist.


Letzte Änderung: 22.5.2013werner.haas@univie.ac.at