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[Stempel Planá, ca. 13.8.1922]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Misdroy an der Ostsee postlagernd Německo

[Abs.:] Dr Franz Kafka Planá nad Lužnici Tschechoslowakische Republik


Liebster Max, ich war jetzt fast 4 Tage in Prag und bin wieder hierher in den verhältnismäßigen Frieden zurückgekommen. Diese Einteilung, ein paar Tage in der Stadt, ein paar Monate: auf dem Lande, wäre die für mich vielleicht richtige. Vier Tage im Sommer in der Stadt sind freilich schon sehr viel, länger könnte man sich z. B. gegen die halbnackten Frauen dort kaum wehren, erst im Sommer sieht man dort eigentlich in Mengen ihre merkwürdige Art Fleisch. Es ist leichtes, viel - Wasserhaltiges, zart aufgedunsenes, nur ein paar Tage lang frisches Fleisch; in Wirklichkeit hält es freilich doch lange aus, aber das ist nur ein Beweis für die Kürze des Menschenlebens; wie kurz muß das Menschenleben sein, wenn solches Fleisch, das man sich wegens einer Hinfälligkeit, wegen seiner nur für den Augenblick modellierten Rundung (die allerdings, wie Gulliver entdeckt hat - ich kann es aber meistens nicht glauben, - durch Schweiß, Fett, Poren und Härchen entstellt ist) kaum anzurühren getraut, wie kurz muß das Menschenleben sein, wenn solches Fleisch einem großen Teil des Lebens überdauert.

    Hier im Ort sind die Frauen ganz anders, es gibt zwar auch viele Sommerfrischler hier, z. B. eine ungemein schöne, ungemein dicke blonde Frau, die, so wie etwa ein Mann an seiner Weste rückt, alle paar Schritte sich Strecken muß, um Bauch und Brüste in Ordnung zu bringen, angezogen ist sie wie ein schöner Giftschwamm und riecht - die Menschen haben keinen Halt - wie der beste eßbare Pilz (ich kenne sie natürlich gar nicht, kenne fast niemanden hier) -, aber über die Sommerfrischler sieht man hinweg, sie sind entweder komisch oder gleichgültig, aber von den einheimischen Frauen bewundere ich die meisten. Sie sind niemals halbnackt, und trotzdem sie kaum mehr als ein Kleid haben, sind sie immer vollständig angezogen. Dick werden sie erst im spätesten Alter und üppig ist nur hie und da ein junges Mädchen (eine Stallmagd etwa in einem halbverfallenen Hof, an dem ich abends öfters vorübergehe, sie steht dann manchmal in der Stalltür und kämpft förmlich mit ihren Brüsten), die Frauen aber sind trocken, eine Trockenheit, in die man sich wahrscheinlich nur von der Ferne verlieben kann, Frauen, die gar nicht gefährlich scheinen und doch prachtvoll sind. Es ist ja eine besondere Trockenheit, die von Wind, Wetter, Arbeit, Sorgen und Gebären herkommt, aber doch gar nicht städtisches Elend ist, sondern ruhige aufrechte Fröhlichkeit. Neben uns wohnt eine Familie, sie müßte gar nicht Veselý* heißen; die Frau ist 32Jahre alt und hat 7 Kinder, darunter 5 Jungen, der Vater ist Mühlenarbeiter, hat meistens Nachtarbeit. Dieses Ehepaar verehre ich. Er sieht, wie Ottla sagt, wie ein palästinensischer Bauer aus, nun, es ist möglich: mittelgroß, etwas bleich, die Bleichheit ist aber beeinflußt von dein schwarzen Schnauzbart (einer von den Bärten, von denen Du einmal geschrieben hast, dass sie die Energie aufsaugen), still, zögernde Bewegungen, wäre nicht seine Ruhe, könnte man sagen, dass er schüchtern ist. Die Frau, eine jener Trockenen, immer jung, immer alt, blauäugig, fröhlich, faltenreiches Lachen, trägt auf umbegreifliche Weise diesen Haufen Kinder durchs Leben (ein junge geht in die Realschule in Tábor) und leidet natürlich ununterbrochen, einmal als ich mit ihr sprach, kam ich mir mit ihr fast verheiratet vor, denn auch mir machen die Kinder vor dein Fenster Leid, aber nun beschützt mich auch sie. Freilich, es ist schwer, der Vater muß oft bei Tag schlafen, dann müssen die Kinder aus dem Haus und dann bleibt für sie kaum etwas anderes übrig als der Platz vor meinem Fenster, ein Stück grasbewachsener Straße und ein Stück eingezäunter Wiese mit ein paar Bäumen, die der Mann wegen seiner Ziegen gekauft hat. Einmal an einem Vormittag versuchte er dort zu schlafen, er lag dort zuerst auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf. Ich saß beim Tisch und sah immerfort nach ihm hin, konnte kaum von ihm fortsehn, konnte nichts anderes machen. Wir brauchten beide Stille, das war eine Gemeinsamkeit, aber die einzige. Wenn ich meinen Anteil an der Stille ihm hätte opfern können, hätte ich es gern getan. Es war übrigens nicht still genug, andere Kinder, nicht die seinen, lärmten, er drehte sich um und versuchte mit dem Gesicht in den Händen einzuschlafen, es war aber nicht möglich, er stand dann auf und ging nachhause.

    Ich erzähle Dir da aber, Max, wie ich allmählich merke, Geschichten, die Dich gar nicht interessieren können, und erzähle sie nur deshalb, um überhaupt etwas zu erzählen und mit Dir in irgendeiner Verbindung zu sein, denn ich bin sehr trübselig, lustlos aus Prag zurückgekommen. Ursprünglich wollte ich Dir gar nicht schreiben, für den Lärm und das Unglück der Stadt, so wie Du dort gelebt hast, mögen Briefe passen, aber dort oben in der Meeresstille wollte ich Dich nicht stören, die Karte, die Du mir zuletzt aus Prag schicktest, bestärkte mich auch darin. Nun aber, da ich aus Prag zurückgekommen bin, ein wenig traurig wegen des immerfort leidenden Vaters (vielleicht wird es doch gut ausgehn, schon seit einer Woche geht er täglich spazieren, Schmerzen, Unbehagen, Unruhe, Angst hat er aber immerfort), traurig wegen der großartig tapferen, geistig sehr starken, aber in seiner Pflege sich immer mehr zerstörenden Mutter, traurig noch wegen einiger anderer, viel weniger wichtigen, aber fast noch mehr bedrängenden Dinge, denke ich, weil ich nun schon bei der Selbstzerstörung halte, auch an Dich, habe heute von Dir geträumt, vielerlei, von dem ich aber nur behalten habe, dass Du aus einem Fenster geschaut hast, entsetzlich mager, das Gesicht ein genaues Dreieck -, und da das alles so ist (und ich auch durch das "widernatürliches Leben der letzten Tage aus dem verhältnismäßigen Gleichmaß gerüttelt bin und sofort den Weg, wenn es bisher einer war, knapp vor meinen Füßen abbrechen sehe) schreibe ich Dir doch, trotz der äußeren Bedenken und der innern Schwierigkeiten. Es könnte nämlich nach der Art, wie Du die letzte Zeit in Prag verbracht hast, immer auf der Lauer nach Leipziger Briefen (und manchmal nach dem Kommen eines Briefes mehr leidend als vorher) wohl sein, dass Du ähnlich aussiehst wie in meinem Traum, es wäre denn, dass Du - was ich von Herzen Dir wünsche - auf dem Urlaub Dich schon ein wenig erholt hast. Möglich wäre es ja, da Du doch jetzt statt der fortwährenden Qual der Briefe das Glück fortwährender lebendiger Mitteilung hast. Fräulein S. wollte ich gern grüßen, aber ich kann nicht, ich kenne sie immer weniger. Ich kenne sie als die wunderbare Freundin nach dem, was Du von ihr erzählst, ferner kenne ich sie als die zwar unverständliche, aber niemals anzuklagende Göttin der Novelle, schließlich aber auch als die Briefschreiberin, die an Deiner Zerstörung arbeitet und dabei leugnet, es tun zu wollen. Das sind zu viel Widersprüche, daraus ergibt sich kein Mensch, ich weiß nicht, wer an Deiner Seite geht, und ich kann sie nicht grüßen. Du aber leb wohl und komm gesund zurück.


* das ist "fröhlich".

F



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Fräulein S.: Emmy Salveter, Brods Deckname für seine Geliebte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at