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[An Max Brod]
[Stempel: Planá nad Luznici, 12.7.22; Mittwoch]

Martin Salvat     Praha-Hrad     poste restante
Dr. Kafka     n pí Hnilickové     Planá nad Luznici

Liebster Max, eben laufe ich herum oder sitze versteinert, so wie es ein verzweifeltes Tier in seinem Bau tun müßte, überall Feinde, vor diesem Zimmer Kinder und vor dem zweiten auch, gerade wollte ich schon weggehn, da ist, wohl nur augenblicksweise, Ruhe und ich kann Dir schreiben. Du darfst nicht glauben, dass es in Planá vollkommen oder annähernd vollkommen schön ist und dass dies der Hauptgrund meines Bleibens ist. Zwar die Wohnung selbst ist, was häuslichen Frieden betrifft, fast ingeniös eingerichtet, die Einrichtung müßte nur benützt werden und Ottla, die allersorgsamste, tut es auch, von ihr, dem Kind und dem Mädchen habe ich, trotzdem wir doch Wand an Wand wohnen, nicht die leiseste Störung Tag und Nacht, aber gestern z.B. nachmittag spielen Kinder vor meinem Fenster, knapp unter mir eine böse Gruppe, weiter links eine artige, lieb anzusehende, aber der Lärm beider ist gleichwertig, treibt mich aus dem Bett, verzweifelt aus dem Haus, mit schmerzenden Schläfen durch Feld und Wald, ganz hoffnungslos, nachteulenartig. Und lege ich mich abend in Frieden und Hoffnung nieder, werde ich um ½4 geweckt und schlafe nicht wieder ein. Auf dem nahen Bahnhof, der aber nicht sehr störend ist, werden fortwährend Stämme verladen, dabei wird immer gehämmert, aber milde und pausenweise, diesen Morgen aber, ich weiß nicht, ob das nicht jetzt immer so sein wird, wurde schon so frühzeitig angefangen und durch den stillen Morgen und das schlafdurstige Hirn klang das ganz anders als bei Tag. Es war sehr schlimm. Und dann stehe ich morgens auf, es ist gar keine Ursache aufzustehn mit diesem Zustand der Schläfen. Dabei aber habe ich noch großes Glück. Es sind seit paar Tagen etwa 200 Prager Schulkinder hier untergebracht. Ein höllenmäßiger Lärm, eine Geißel der Menschheit. Ich begreife nicht, wie es kommt, dass die Leute in dem davon betroffenen Ortsteil - und es ist der größte und vornehmste Teil des Ortes - nicht irrsinnig geworden aus ihren Häusern in die Wälder flüchten, undzwar müßten sie recht weit flüchten, denn der ganze Rand dieser schönen Wälder ist verseucht. Ich bin im Ganzen noch davon verschont geblieben, aber jeder Augenblick kann Überraschungen bringen, wie es schon manche kleinere gab und manchmal schaue ich suchend und erwartungsvoll aus dem Fenster als der arme Sünder, der ich bin. Ich verliere jeden Sinn auch für guten Lärm und wie man etwa in Teatern nur des Lärmes halber zusammenkommt, wird mir bald unbegreiflich werden. Nur die Kritiken, die besonders schönen, die Du jetzt schreibst oder die besonders schön hier zu lesen sind, werde ich hoffentlich immer verstehn. Wüßte man nichts als das Gedruckte, müßte man glauben, dass hier einer aus der tiefen Ruhe der Nacht und des Arbeitstages am Abend auftaucht und allein, innerlich fröhlich, beglückt mit den allerbesten Augen und Ohren, durch die Teater irrt, dabei immerfort in strengem Bezug zu einem fortwährend Leben spendenden Geheimnis. Die schöne Untersuchung über Jirasek, oder auch nur eine solche glückselige Kleinigkeit wie die über Pottasch und Perlmutter (war an jenem Abend alles in Ordnung?). Oder über die Arena, trotzdem hier der kleine Absatz über die Bänke mich etwas stört, nicht zufällig, sondern grundsätzlich. Ich weiß nicht worin wir hier ein wenig auseinandergehn. Fehlt mir hier irgendein Blick oder Beurteilungsvermögen?
Was Du über meinen Fall sagst, ist richtig, nach außen presentiert es sich so, das ist ein Trost und zu gelegener Stunde auch eine Verzweiflung, denn es zeigt, dass von den Schrecknissen nichts durchdringt und alles mir aufbewahrt bleibt. Diese Finsternis, die nur ich sehn muß, aber auch ich bei weitem nicht immer, schon am nächsten Tage nach jenem Tag nicht mehr. Aber ich weiß dass sie da ist und auf mich wartet, wenn - nun, wenn ich nicht mit mir ein Einsehn habe. Wie schön und auch richtig Du alles erklärst und wenn Du mich so nach Berlin einladest, fahre ich gewiß und wäre ja möglicherweise auch mit Baum gefahren, wenn wir gleich von Prag zusammenweggefahren wären. Und meine körperliche Schwäche ist ja auch noch, wie Ottla es tut, in Rechnung zu stellen und die Häßlichkeit des Valutareisenden, der ohne andern Grund als nur weil es billig ist hinfährt und die nicht unberechtigte Angst vor Unruhen - viele Ursachen und doch nur eine, eine die ich einmal als Kind irgendwo in Stecknadelgröße zu sehn glaubte und von der ich jetzt weiß dass es nichts gibt als sie.
Und das Schreiben? (Das übrigens hier unter-mittel-mäßig weitergeht, sonst nichts, und immerfort von Lärm gefährdet.) Möglich dass meine Erklärung für Dich gar nicht stimmt und nur daher kommt, dass ich Dein Schreiben möglichst nahe an dem meinen haben will. Und dieser Unterschied besteht gewiß, dass ich, wenn ich einmal außer durch Schreiben und was mit ihm zusammenhing glücklich gewesen sein sollte, (ich weiß nicht genau ob ich es war), ich dann gerade des Schreibens gar nicht fähig war, wodurch dann alles, es war noch kaum in der Fahrt, sofort umkippte, denn die Sehnsucht zu schreiben hat überall das Übergewicht. Woraus aber nicht auf grundlegende eingeborene ehrenhafte Schriftstellereigenschaft zu schließen ist. Ich bin von zuhause fort und muß immerfort nachhause schreiben, auch wenn alles Zuhause längst fortgeschwommen sein sollte in die Ewigkeit. Dieses ganze Schreiben ist nichts als die Fahne des Robinson auf dem höchsten Punkt der Insel.

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Um mich noch ein wenig durch Klagen zu erleichtern: heute von ½4 an wieder die Verladerampe, Hämmern, Rollen der Stämme, Rufe der Verlader, gestern um 8 Uhr früh war es endgiltig dann zu Ende, heute aber brachte der Lastzug eine neue Ladung, so dass es wahrscheinlich auch am Vormittag, der bisher meist schön war, so weitergehen wird. Um die Pause auszufüllen, wurde eben jetzt etwa 100 Schritte von mir ein Göpel in Gang gebracht, meist liegt er still oder wird von vernünftigen Pferden bedient, die keine Zusprache brauchen, heute aber wurden Ochsen eingespannt und denen muß man jeden Schritt mit Hott und Hüöh und sakramentská pakáz erklären. Was soll das Leben noch?
Die Wannseevilla, Max! Und mir bitte ein stilles Dachzimmer (weit vom Musikzimmer) aus dem ich mich gar nicht fortrühren will; man wird gar nicht merken, dass ich dort bin.
Aber vorläufig sind nur diese Leiden, immer wieder; was war dieser Anlaß? Es ist nicht auszudenken, aber wenn man es erfährt, stimmt es immer, über alle Trostmöglichkeiten hinweg. Aber wie ist es möglich, dass Du leidest und gleichzeitig über dem Schwanenteich träumst. (Zauberhaft ist es, ich habe es jetzt wieder gelesen - das Hinweggleiten über die gesamte Melancholie - die Schwermut über die Kanapees hingelagert - das alte russische Schloß - die Tänzerin - das Ertrinken im See - alles) - Es muß sich in den letzten Tagen doch wieder wesentlich gebessert haben. (Juchhu! schreit eben ein Junge unter meinem Fenster, die Ketten am Bahnhof rasseln, nur die Ochsen machen eine Pause, es wird ein harter Vormittag werden, es ist nämlich kühl, sonst schützt mich die Sonne vor den Kindern - heute hätte ich vielleicht die Kraft, nach Georgental zu fahren) Freilich so körperlich gelitten wie diesmal hast Du nie, wenn Du es auch leugnest. Diese körperlichen Leiden kann ich E. nicht verzeihen, auch wenn sie an ihnen unschuldig sein sollte; schon wegen des von Dir hergestellten Zusammenhanges nicht.
Auch ich bekam einen Klagebrief von Felix. Ich glaube, ihm wäre am leichtesten von uns allen zu helfen, und niemand hilft ihm.
Hast Du meine Karte bekommen? Kannst Du die Novelle noch in Prag lassen? Hast Du über Hauptmann geschrieben?
Alles Gute, mehr als bisher!

F

Weißt Du etwas von Klopstock? Er hat mir seit einiger Zeit nicht geschrieben; sehr verständlich angesichts meiner unbefriedigenden Antworten.
Wie war (in intimer Hinsicht) der Elternabend? Wie hat meine Schwester gesprochen? Hat man Schüler für nächstes Jahr? - Eben bringt mir Ottla die Nachricht, dass sie (unaufgefordert, von mir gar nicht aufmerksam gemacht, unten in der Küche auf dem Hof kann sie überdies die Kinder kaum hören) die Kinder weggeschickt hat und dass sie - es ist die artige Gruppe - bereitwilligst gegangen sind. Bleibt die Verladerampe und der unausgeschlafene Kopf und die verhältnismäßig späte Stunde, ein verlorener Tag, durch Ottlas Sorgfalt erträglicher gemacht. - Nein, eben ist die unartige, unbeherrschbare, weil der Hausfrau als Tante gehörige Gruppe vor meinem Fenster. Du fragst nach dem Wald, der Wald ist schön, dort kann man Ruhe finden, aber keine "Komponierhütte". Ein Gang durch den (übrigens sehr mannigfaltigen) Wald am Abend, wenn der Lärm der Vögel sich dämpft (an Mahlers Stelle hätten mich vielleicht die Vögel gestört) und es nur noch hie und da ängstlich zwitschert (man könnte glauben, es sei Angst vor mir, aber es ist Angst vor dem Abend) und das Sitzen auf einer bestimmten Bank am Waldrand vor einer großen Aussicht (hier herrschen aber schon meistens die entsetzlichen Stimmen der Prager Kinder), das ist sehr schön, aber nur wenn eine ruhige Nacht und ein ruhiger Tag vorherging.


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.

Jirasek: Brods Besprechung des historischen Dramas "Hus" von Alois Jirásek (1851 - 1930) war am 7. Juli 1922 im Prager Abendblatt unter dem Titel "Kunstwerk und Historie" erschienen.
Pottasch und Perlmutter: Das Stück "Pottasch und Perlmutter" hat Max Brod am 28. Juni im Prager Abendblatt besprochen.
Arena: Max Brods Aufsatz über die "Smichower Arena" (ein Sommertheater am Moldauufer) ist am 6. Juli 1922 im Prager Abendblatt erschienen.
Absatz über die Bänke: Brod beklagt sich darüber, dass die Bänke im Park vor dem Theater keine Rückenlehne haben: "Ruhebänke ohne Rückenlehne: Symbol unserer peinlich unfertigen Welt."
Sakramentská pakáz: "Verdammtes Pack!"
Schwanenteich: Es handelt sich um Brods: "Der Schwanensee" (Prager Abendblatt, 11. Juli 1922), eine Kritik über die Aufführung von Tschaikowskys Ballett im Tschechischen Nationaltheater.
Elternabend: Brod schreibt hierzu: "Bezieht sich auf die von den Prager Zionisten neu gegründete 'Jüdische Schule'. Kafkas zweitälteste Schwester Valli hielt bei dem erwähnten Elternabend eine bedeutsame Rede, ganz im Geist ihres Bruders."
Komponierhütte: Kafka bezieht sich auf das Häuschen in den Wäldern am Wörthersee, in das sich Gustav Mahler im Sommer zur Arbeit zurückzog.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at