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[Planá, Stempel: 5.(7.22); Ankunftstempel: Praha-Hrad, 6.7.22]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante

[Abs.:] Dr Kafka n pí Hniličkové Planá nad Lužnici


Lieber Max, nach einer schlaflosen Nacht, der ersten in Planá, bin ich zwar zu allem andern unfähig, aber Deinen Brief kann ich vielleicht besser verstehe als sonst, besser als Du, vielleicht aber überspitze ich es und verstehe ihn zu gut, denn Dein Fall ist doch insofern von meinem verschieden, als er zwar auch nicht wirklich, aber wirklichkeitsnäher ist als der meine. Mir ist folgendes geschehe: Ich sollte, wie Du weißt, nach Georgental fahren, ich hatte niemals einen Einwand dagegen; wenn ich einmal sagte, es würden dort zu viel Schriftsteller sein, so war das vielleicht eine Vorahnung des Kommenden, aber als Einwand war es nicht ernstlich, war es nur Koketterie, im Gegenteil, in der Nähe bewundere ich jeden Schriftsteller, (darum wollte ich auch zur Preissová, von der mir auch Deine Frau abgeraten hat), ich bewundere zwar jeden Menschen, aber den Schriftsteller besonders, vor allem den mir sonst persönlich unbekannten Schriftsteller, unvorstellbar ist mir, wie er sich in diesem luftigen und schrecklichen Reich so behaglich eingerichtet hat und wie er dort so geordnete Wirtschaft führt; die meisten Schriftsteller, die ich kenne, kommen mir, wenigstens in Person, behaglich vor, auch Winder z. B. Und zudritt wäre es für meine Verhältnisse sogar besonders angenehm, es würde gar nicht auf mich ankommen, ich könnte mich zur Seite halten und wäre doch nicht allein, wovor ich mich fürchte. Und hätte auch sonst in Oskar, den ich lieb habe und der gut zu mir ist, einen Rückhalt. Und ich würde wieder ein neues Stück Welt sehn, zum ersten Mal seit acht Jahren wieder Deutschland. Und billig ist es und gesund. Und hier ist es zwar schön bei Ottla und besonders jetzt, da ich mein altes Zimmer wieder habe, aber gerade gegen Ende des Monats und im nächsten Monat kommen Gäste aus des Schwagers Familie, der Platz wird wieder ein wenig beengt sein, es wäre sehr gut, wenn ich wegfahre, und zurückkommen kann ich ja wieder, deren Ottla bleibt bis Ende September. Hier ist also keine Verstandes- und Gefühlslücke, die Reise ist unbedingt zu empfehlen. Und nun ist gestern ein sehr lieber, ausführlicher Brief Oskars gekommen, ein schönes stilles Zimmer mit Balkon, Liegestuhl, guter Ernährung, Gartenaussicht für 150 M täglich ist gefunden, ich brauche nur anzunehmen oder vielmehr ich habe schon im voraus angenommen, denn ich hatte ja gesagt, dass ich, wenn etwas derartiges gefunden wird, bestimmt komme.

    Und was geschieht nun? Ich habe, um es zuerst ganz allgemein zu sagen, Angst vor der Reise, ich ahnte es schon, als in den letzten Tagen das Ausbleiben des Oskarschen Briefes mir Freude machte.

    Aber es ist nicht Angst vor dem Reisen selbst, ich bin doch auch, allerdings nur 2 Stunden und dort sind es 12, hierher gefahren und das Fahren selbst war mir langweilig aber sonst gleichgültig. Es ist nicht Reiseangst, wie man es letzthin z. B. von Myslbeck las, der nach Italien fahren wollte und schon bei Beneschau umkehren mußte. Es ist nicht Angst vor Georgental, wo ich mich, wenn ich doch hinkommen sollte, gewiß sofort, noch am gleichen Abend eingewöhnt haben werde. Es ist auch nicht Willensschwäche, bei welcher der Entschluß erst dann eintreten will, wenn der Verstand alles genau ausgerechnet hat, was meist unmöglich ist. Hier ist ein Grenzfall, wo der Verstand wirklich rechnen kann und immer wieder zu dem Resultat kommt, dass ich fahren soll. Eher ist es Angst vor der Veränderung, Angst davor, die Aufmerksamkeit der Götter durch eine für meine Verhältnisse große Tat auf mich zu lenken.

    Als ich heute in der schlaflosen Nacht alles immer wieder hin- und hergehn ließ zwischen den schmerzenden Schläfen, wurde mir wieder, was ich in der letzten genug ruhigen Zeit fast vergessen hatte, bewußt, auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden ich lebe, über einem Dunkel, aus dem die dunkle Gewalt nach ihrem Willen hervorkommt und, ohne sich an mein Stottern zu kehren, mein Leben zerstört. Das Schreiben erhält mich, aber ist es nicht richtiger zu sagen, dass es diese Art Leben erhält? Damit meine ich natürlich nicht, dass mein Leben besser ist, wenn ich nicht schreibe. Vielmehr ist es dann viel schlimmer und gänzlich unerträglich und muß mit dem Irrsinn enden. Aber das freilich nur unter der Bedingung, dass ich, wie es tatsächlich der Fall ist, auch wenn ich nicht schreibe, Schriftsteller bin und ein nicht schreibender Schriftsteller ist allerdings ein den Irrsinn herausforderndes Unding. Aber wie ist es mit dem Schriftstellersein selbst? Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, dass es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige. Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses. Und das Teuflische daran scheint mir sehr klar. Es ist die Eitelkeit und Genußsucht, die immerfort um die eigene oder auch um eine fremde Gestalt - die Bewegung vervielfältigt sich dann, es wird ein Sonnensystem der Eitelkeit - schwirrt und sie genießt. Was der naive Mensch sich manchmal wünscht: "Ich wollte sterben und sehn, wie man mich beweint", das verwirklicht ein solcher Schriftsteller fortwährend, er stirbt (oder er lebt nicht) und beweint sich fortwährend. Daher kommt eine schreckliche Todesangst, die sich nicht als Todesangst äußern muß, sondern auch auftreten kann als Angst vor Veränderung, als Angst vor Georgental. Die Gründe für die Todesangst lassen sich in 2 Hauptgruppen teilen. Erstens hat er schreckliche Angst zu sterben, weil er noch nicht gelebt hat. Damit meine ich nicht, dass zum Leben Weib und Kind und Feld und Vieh nötig ist. Nötig zum Leben ist nur, auf Selbstgenuß zu verzichten; einziehn in das Haus, statt es zu bewundern und zu bekränzen. Dagegen könnte man sagen, dass das Schicksal ist und in niemandes Hand gegeben. Aber warum hat man dann Reue, warum hört die Reue nicht auf? Um sich schöner und schmackhafter zu machen? Auch das. Aber warum bleibt darüber hinaus das Schlußwort in solchen Nächten immer: Ich könnte leben und lebe nicht. Der zweite Hauptgrund - vielleicht ist es auch nur einer, jetzt wollen sich mir die zwei nicht recht sondern - ist die Überlegung: "Was ich gespielt habe, wird wirklich geschehn. Ich habe mich durch das Schreiben nicht losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben. Mein Leben war süßer als das der andern, mein Tod wird um so schrecklicher sein. Der Schriftsteller in mir wird natürlich sofort sterben, denn eine solche Figur hat keinen Boden, hat keinen Bestand, ist nicht einmal aus Staub; ist nur im tollsten irdischen Leben ein wenig möglich, ist nur eine Konstruktion der Genußsucht. Dies ist der Schriftsteller. Ich selbst aber kann nicht weiterleben, da ich ja nicht gelebt habe, ich bin Lehm geblieben, den Funken habe ich nicht zum Feuer gemacht, sondern nur zur Illuminierung meines Leichnams benützt." Es wird ein eigentümliches Begräbnis werden, der Schriftsteller, also etwas nicht Bestehendes, übergibt den alten Leichnam, den Leichnam seit jeher, dem Grab. Ich bin genug Schriftsteller, um das in völliger Selbstvergessenheit - nicht Wachheit, Selbstvergessenheit ist erste Voraussetzung des Schriftstellertums - mit allen Sinnen genießen oder, was dasselbe ist, erzählen zu wollen, aber das wird nicht mehr geschehn. Aber warum rede ich nur vom wirklichen Sterben. Im Leben ist es ja das Gleiche. Ich sitze hier in der bequemen Haltung des Schriftstellers, bereit zu allem Schönen, und muß untätig zusehn - denn was kann ich anderes als schreiben -, wie mein wirkliches Ich, dieses arme, wehrlose (das Dasein des Schriftstellers ist ein Argument gegen die Seele, denn die Seele hat doch offenbar das wirkliche Ich verlassen, ist aber nur Schriftsteller geworden, hat es nicht weiter gebracht; sollte die Trennung vom Ich die Seele so sehr schwächen können?) aus einem beliebigen Anlaß, einer kleinen Reise nach Georgental, [einige Worte unleserlich gemacht ], (ich wage es nicht stehn zu lassen, es ist auch in dieser Weise nicht richtig) vom Teufel gezwickt, geprügelt und fast zermahlen wird. Mit welchem Recht erschrecke ich, der ich nicht zuhause war, dass das Haus plötzlich zusammenbricht; weiß ich denn, was dem Zusammenbruch vorhergegangen ist, bin ich nicht ausgewandert und habe das Haus allen bösen Mächten überlassen?

    Ich habe gestern Oskar geschrieben, zwar meine Angst erwähnt, aber meine Ankunft zugesagt, der Brief ist noch nicht weggeschickt, inzwischen war die Nacht. Vielleicht warte ich noch eine Nacht ab; überstehe ich es nicht, müßte ich doch abschreiben. Damit ist dann entschieden, dass ich aus Böhmen nicht mehr hinausfahren darf, nächstens werde ich dann auf Prag eingeschränkt, dann auf mein Zimmer, dann auf mein Bett, dann auf eine bestimmte Körperlage, dann auf nichts mehr. Vielleicht werde ich dann auf das Glück des Schreibens freiwillig - auf die Freiwilligkeit und Freudigkeit kommt es an, - verzichten können.

    Um diese ganze Geschichte schriftstellerisch zu pointieren - nicht ich pointiere, die Sache tut es - muß ich hinzufügen, dass in meiner Angst vor der Reise sogar die Überlegung eine Rolle spielt, ich würde zumindest durch einige Tage vorn Schreibtisch abgehalten sein. Und diese lächerliche Überlegung ist in Wirklichkeit die einzige berechtigte, denn das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.

    Die Definition des Schriftstellers, eines solchen Schriftstellers, und die Erklärung seiner Wirkung, wenn es eine Wirkung überhaupt gibt: Er ist der Sündenbock der Menschheit, er erlaubt den Menschen, eine Sünde schuldlos zu genießen, fast schuldlos.

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    Vorgestern war ich zufällig auf dem Bahnhof (mein Schwager wollte wegfahren, fuhr dann aber nicht), zufällig wurde hier der Wiener Schnellzug angehalten, weil er auf den nach Prag fahrenden Schnellzug warten sollte, zufällig war Deine Frau dort, eine angenehme Überraschung, wir sprachen ein paar Minuten miteinander, sie erzählte von dem Abschluß der Novelle.

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    Fahre ich nach Georgental, bin ich in zehn Tagen in Prag, liege glücklich auf Deinem Kanapee und Du liest vor. Fahre ich aber nicht -


[ auf dem Umschlag geschrieben ] Ich habe Oskar abtelegraphiert, es ging nicht anders, der Aufregung war nicht anders beizukommen. Schon der gestrige erste Brief an ihn kam mir sehr bekannt vor, so pflegte ich an Felice. zu schreiben.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Georgental: Georgenthal, kleiner Ort im Kreis Gotha am Rand des Thüringer Waldes.


Winder: Brod schreibt: "Als engeren Prager Kreis bezeichne ich die innige freundschaftliche Verbindung von vier Autoren, zu der dann später noch ein fünfter trat. Diese vier waren: Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar Baum und ich. Nach Kafkas Tod kam Ludwig Winder hinzu" (PK 35). Zu diesem Romancier, der während vieler Jahre Theaterkritiker der Bobemia war, siehe PK 142-144 und Margarita Pazi, Fünf Autoren des Prager Kreises, Frankfurt am Main etc.: Peter Lang 1978, S.256-298.


Myslbek: Der tschechische Bildhauer Josef Václav Myslbeck (1848-1922), dessen Begräbnis am 5. Juni in Prag stattgefunden hatte. Benešov liegt nur etwa 30 km südlich von Prag.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at