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[Tagebuch, 17. Oktober 1921; Montag]

17 XI (Oktober 1921) Dahinter, dass ich nichts Nützliches gelernt habe und mich - was zusammenhängt - auch körperlich verfallen ließ, kann eine Absicht liegen. Ich wollte unabgelenkt bleiben, unabgelenkt durch die Lebensfreude eines nützlichen und gesunden Mannes. Als ob Krankheit und Verzweiflung nicht zumindest ebenso ablenken würden!

Ich könnte diesen Gedanken auf verschiedene Weise abrunden und damit zu meinen Gunsten zuendeführen, aber ich wage es nicht und glaube - wenigstens heute und so in der Mehrzahl der Tage - an keine für mich günstige Lösung.

Ich beneide nicht das einzelne Ehepaar, ich beneide nur alle Ehepaare, auch wenn ich nur ein Ehepaar beneide, beneide ich eigentlich das ganze Eheglück in seiner unendlichen Vielgestalt, im Glück einer einzigen Ehe würde ich selbst im günstigsten Fall wahrscheinlich verzweifeln.

Ich glaube nicht, dass es Leute gibt, deren innere Lage ähnlich der meinen ist, immerhin kann ich mir solche Menschen vorstellen, aber dass um ihren Kopf so wie um meinen immerfort der heimliche Rabe fliegt, das kann ich mir nicht einmal vorstellen.

Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich entwickelnder Dammbruch, eine Aktion voll Absicht. Der Geist, der das vollbracht hat, muß jetzt Triumphe feiern; warum läßt er mich daran nicht teilnehmen? Aber vielleicht ist er mit seiner Arbeit noch nicht zuende und kann deshalb an nichts anderes denken.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at