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[An Ottla Kafka: Briefkopf: Tatranské-Matliary, klimatischer Höhenkurort]

[Stempel: Tatranské-Matliary - 21. V. 21]
 


Liebste Ottla, also wieder einmal hast Du es fertig gebracht, wie oft willst Du es noch machen? Sooft, bis auch der sanfteste Direktor endlich rufen wird: "Genug! Hinaus! Kein Wort mehr!" So oft? Es ist aber wirklich ein eigentümlicher Posten, eigentümlich erstens dadurch dass er zwei Dinge vereinigt, die sonst selten beisammen sind, nämlich äußerste Entbehrlichkeit des Beamten und äußerst gute Behandlung und zweitens dadurch dass ich ja niemals so gut behandelt werden könnte, wenn ich nicht eben so sehr entbehrlich wäre. Nun freilich, jeder dieser Urlaube ist, so vornehm er, fast ohne dass ich bitte, gegeben wird, doch nur ein Almosen und es ist eine Schande, dass ich es annehme. Womit ich aber nicht sagen will, dass mir das während der Urlaubszeit besonders wehtut, nein, nur wenn ich bitte und wenn es bewilligt wird. Und diesmal wurde sogar mehr bewilligt als ich wollte. Leider kann ich dem Direktor nicht einmal tschechisch danken, wieder nur deutsch und selbst das ist schwer.


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dass Herr Fikart kleiner geworden ist, kann ich nicht recht glauben, wohl aber bist Du Mutter also so viel größer geworden und deshalb scheint es Dir dass alles kleiner wird (Du kennst ja die Relativitätstheorie und die Schiffe) nur Vera wird größer und füllt den Horizont (und sich) Wie sieht sie denn aus und was steht auf ihrer Stirn geschrieben? Natürlich darfst Du Dich beim Lesen nicht mit der oberflächlichen Schrift begnügen, dort heißt es natürlich bloß: "ich will essen".

Schade nur dass sie Dich hindert herzukommen, vielleicht wird es aber z. B. im nächsten Frühjahr doch schon möglich sein. Ich weiß nämlich nicht, wie ich von hier loskommen soll, wenn Du mich nicht abholst. Man liegt im Wald an der Sonne, auf dem Balkon zu hause, geht früh im sonnigen Wald herum, lacht oder langweilt sich oder ist traurig oder freut sich sogar manchmal, zweimal täglich weint man über dem Essen (gestern beim Mittagessen sagte ich unbewußt klagend "Ach Gott!" und merkte es erst nachher), ein wenig nimmt man auch zu, es geht schon gegen das 8te Kilo - kurz, es ist eine in sich geschlossene Welt, in der man Bürger ist, und so wie man im allgemeinen auch aus der Erdenwelt, wenn man eingebürgert ist, erst loskommt, wenn einen der Engel holt, so auch hier. Also im nächsten Frühjahr?

Wenn es Dir nicht viel Mühe macht, könntest Du noch ehe Du wegfährst, zu Krätzig - Darfst ihm nicht sagen dass er kleiner geworden ist! - (dem Dienstältern daher mehr Ehrfurcht beanspruchenden) und Treml gehn? Vielleicht ist auch zufällig Post dort.

Und sag mir bitte nächstens auch paar Worte von Elli, Valli und den Kindern.

Dein


Grüß Pepa

Das Fräulein grüßen!!

Wenn das Paket noch nicht abgeschickt ist, könnte man noch etwa 3 Hemden weiche, wenn irgendwelche gute da sind, beilegen




Aufgrund des an den Direktor gerichteten Dankschreibens vom 18. Mai 1921 ist dieser Zeitpunkt der wahrscheinlichste Entstehungstag auch für Kafkas Schreiben an Ottla (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 95). Da aber der am 21. Mai abgestempelte Briefumschlag, in dem heute irrtümlich Nr. 88 steckt, eigentlich nur zu Nr. 98 zeitlich paßt, ist dieses Schreiben entweder mit Verzögerung zur Post gelangt oder aber am 18. nur begonnen und erst (wofür der Querstrich im Text sprechen könnte) zwei oder drei Tage später abgeschlossen worden.


äußerste Entbehrlichkeit: Vgl. Nr. 95 und die Anmerkungen zu Nr. 50.


mehr bewilligt: Kafka bat, wie aus Nr. 97 hervorgeht, um Urlaubsverlängerung bei nur halbem Gehalt, worauf die Direktion offenbar nicht einging.


wieder nur deutsch: Vgl. Nr. 95. Das vom 18. Mai 1921 datierte Schreiben lautet:


Verehrter Herr Direktor!

Für die Bewilligung eines neuerlichen Urlaubs und für die Art, in welcher diese Bewilligung erfolgte, danke ich, verehrter Herr Direktor, herzlichst. Wie ich diese Dankesschuld einmal der Anstalt abzahlen soll, das allerdings - ich muß es gestehen - weiß ich nicht und es bedrückt mich.

Mein Zustand hat sich in den letzten 2 Monaten wohl nicht mehr gebessert, als in den vorhergehenden 3 Monaten. Die Gesamtzunahme beträgt rund 8 kg. Fieberfrei bin ich im allgemeinen auch weiterhin geblieben. Der Husten, der Auswurf, die Müdigkeit haben abgenommen, was ich vor 2 Monaten nicht für möglich gehalten hätte, freilich ist daran wie auch an der Besserung der Atemkraft das schöne Wetter, die leichter atembare Luft, die leichtere Kleidung mitbeteiligt.


                             Mit meinen ergebenen Grüßen

                             bleibe ich, verehrter Herr Direktor,

Ihr Dr. F. Kafka (D 76)


die Relativitätstheorie: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 96.


Krätzig: Wahrscheinlich über ihn schrieb Kafka Ende 1917 aus Zürau an Oskar Baum: "er ist mein nächster Kollege, von hier aus liebe ich ihn geradezu." (Br 190)


das Paket: Zum Verständnis der Stelle vgl. Nr. 94.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at